Kapitel 55.2 - Ein neuer Schüler

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Desdemona und ich verbrachten unsere Zeit auf unserem Zimmer, solange bis mein Bruder irgendwann vorbei kommen würde. Doch er kam nicht.
"Vermutlich versteht er sich richtig gut mit seinem neuen Mitbewohner.", meinte Desdemona, die auf ihrem Bett lag und die Decke anstarrte. "Deshalb ist er noch nicht hier. Er lässt sich bestimmt die Schule zeigen oder ist einfach beschäftigt.
"Vielleicht.", stimmte ich ihr zu und starrte genau wie sie hoch zur Decke. Will ließ uns ganz schön warten. Und irgendwie stimmte es mich traurig. Hatte er uns vergessen? Es freute mich, wenn Will jemanden finden würde, dem er blind vertrauen könnte. Einen guten Freund. So wie ich Desdemona gefunden hatte.
Desdemona schaute auf ihre Uhr. "Gleich beginnt das Abendessen.", benachrichtigte sie mich. "Wir sollten uns auf den Weg machen. Will wird da auf jeden Fall auch sein." Ich nickte und stand auf. Desdemona tat es mir gleich. "Hast du den Schlüssel?", fragte ich und sie nickte. Kurz hielt sie ihn hoch, ehe sie in sich wieder in die Hosentasche steckte.
Draußen auf den Fluren war es alles andere als leer. Alle Schüler waren auf dem Weg zum Abendessen. Nicht selten wurde mit dem Finger auf uns gezeigt und geflüstert. Was hatte ich auch erwartet? Dass sie uns ignorieren würden? Desdemona war hier ja sowieso schon bekannt und ich hatte seit meinem ersten Tag irgendwie die Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Hinzu kam, dass wir auch noch plötzlich verschwunden sind und nun wieder da waren. "Ignorier sie.", sagte Desdemona. "Das tue ich auch." Von überall waren Stimmen zu hören und die Flure füllten sich. Es wurde gedrängelt und geschubst. Desdemona schimpfte leise vor sich hin. "Immer das selbe!", sagte sie und beinahe gleichzeitig teilten ihre Schatten die Menge.
"MacKenzie!", ertönten wütende Rufe. Desdemona grinste. "Schön wieder hier zu sein." Ich verdrehte meine Augen. Natürlich war es gerade das, was ihr gefiel. "Und jetzt beeil dich.", sagte Desdemona zu mir, griff mein Handgelenk und zog mich mit sich. "Sonst sind die guten Plätze weg."
Auf Grund ihrer Schatten kamen wir ohne große Mühen im Speisesaal an. Der war auch schon halb gefüllt. Ich ließ meine Augen über die anwesenden Schüler gleiten, doch Will war nirgends zu sehen. "Er wird schon noch kommen.", ermutigte mich Desdemona, die sofort zu wissen schien, was mich beschäftigte. Sie deutete auf einen Tisch, der von der Tür aus gut zu sehen war. "Setzen wir uns dorthin. Da kann er uns gar nicht übersehen." Wir setzten uns. Bereits jetzt lag der Duft von Essen in der Luft. Das Abendbuffet war schon zur Hälfte gefüllt und die Teller stapelten sich. Das Knarzen des Stuhles neben mir erweckte meine Aufmerksamkeit. "Tut mir leid, dass ich nicht früher zu euch gekommen bin.", entschuldigte sich eine bekannte Stimme. Meine Miene erhellte sich. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht von Will. Dieser lächelte mich entschuldigend an. "Tut mir leid.", sagte er erneut.
"Ach, schon gut.", meinte ich. "Du warst sicher anders beschäftigt."
Will nickte und ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. "Ja, Nawin hat mich ein wenig herumgeführt und mir etwas zum Unterricht erklärt und wie das hier läuft." Er deutete auf einen anderen Jungen, der neben ihm saß. Ich hatte ihn überhaupt nicht bemerkt. Misstrauisch musterte ich den anderen Schüler. Er schien genauso alt wie Will zu sein und war recht groß. Seine braunen Augen waren leicht schräg und machten einen aufgeweckten, forschenden Eindruck. Sein Haar war schwarz und er sah asiatisch aus.
"Nawin Klahan.", stellte er sich vor, während er mich genauso skeptisch musterte wie ich ihn. Will schien das zu bemerken und ergriff wieder das Wort. "Nawin, das ist Lune James.", sagte Will und warf mir kurz einen Blick zu. "Sie ist eine alte Freundin. Durch sie bin ich auf diese Schule gewechselt." Anscheinend hatte Will also schon einen Plan, wie wir erklären sollten, woher wir uns kannten. Doch Nawin schien noch nicht vollkommen überzeugt. "Eine alte Freundin, hm?" Will nickte. Dennoch konnte ich ihm ansehen, dass er stark hoffte, dass Nawin diese Lüge schlucken würde. Nawin schien zu überlegen. Eines musste ich zugeben. Nawin war nicht dumm. Und er hinterfragte Wills Worte. Konnte er vielleicht erkennen, wenn jemand log?
"Also. Nawin ist genau wie wir ein Ghost Elementary.", wechselte Will schnell das Thema, was in mir sofort Interesse weckte. Ein Ghost Elementary? Ich hatte bisher noch mit keinem anderen Ghost Elementary gesprochen, der nicht zu meiner Familie gehörte. Generell wusste ich nicht, wer auf diesem Internat zu den Ghost Elementary gehörte. Immerhin unterschieden sie sich auch nicht allzu sehr von den Schatten. Außerdem gab es auch hier nicht allzu viele Ghost Elementary.
Nawin drehte sich plötzlich zu Will. "Du vertraust ihr?", fragte er und deutete auf mich. Will sah sichtlich überrascht aus. "Natürlich.", sagte Will. "Wieso fragst du?"
Nawin sah mich mit einem undurchdringlichen Blick an. "Nun ja. Sie könnte eine Jägerin sein, so plötzlich wie sie hier aufgetaucht ist."
Nun meldete sich auch Desdemona zu Wort. "Mensch Nawin, musst du eigentlich immer so misstrauisch sein?" Ich sah sie fragend an. Desdemona kannte ihn also. Sie bemerkte meinen Blick und zuckte nur mit ihren Schultern.
"Ich bin nicht misstrauisch. Nur vorsichtig.", sagte Nawin. "Das solltest du vielleicht auch einmal sein."
Mit diesen Worten hatte er Desdemona wütend gemacht. "Ich bin vorsichtig! Nur nicht so extrem wie du! Außerdem, Lune ist vollkommen in Ordnung und ich sollte es wohl besser wissen als du!", giftete sie. "Und denk doch mal nach! Ich bin damals genauso plötzlich hier aufgetaucht wie Lune! Bin ich deswegen eine Jägerin?" Herausfordernd sah Desdemona Nawin an. Wut blitzte in ihren Augen und Nawin hob beschwichtigend seine Hände. "Ist ja schon gut.", sagte er. "Komm runter." Dann wandte er sich an mich. "Tut mir leid, okay?" Ich nickte nur. Immerhin entschuldigte er sich. Doch wer konnte ihm sein Misstrauen verübeln? Jeder konnte ein Jäger sein. Will beugte sich zu mir vor. "Er ist eigentlich voll in Ordnung.", flüsterte er mir zu. Ich wank ab. "Schon gut, Will. Ich kenne ihn doch noch überhaupt nicht. Also lass mich später urteilen." Will lächelte und lehnte sich wieder zurück. Der Saal hatte sich gefüllt. Jeder Stuhl war besetzt. Ich wandte mich an Nawin. "Wie lange bist du schon hier?", fragte ich und er war sichtlich erleichtert über den Themawechsel. "Seit dem ersten Schuljahr. Aber andere sind schon länger hier, wegen irgendwelchen Problemen mit den Jägern oder so." Während er das sagte, sah er Desdemona mit einen Blick an, den ich nicht deuten konnte. Und sie schien seinen Blick zu meiden. Stur sah Desdemona auf die Tischplatte. Okay, was hatte das nun zu bedeuten? Kannten die beiden sich etwa?

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