Kapitel 63.2 - Mitternacht

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Misstrauisch beäugte Nawin Desdemona. "Des.", flüsterte er zuerst kaum hörbar. Angespannt umklammerte er sein Glas. Starrte auf seine Schüssel, um bloß Desdemonas wütenden Blick zu entgehen. Doch der kam nicht. Sie wurde nicht einmal wütend. Nawin räusperte sich. "Des.", sagte er nun lauter. "Mona. Desdemona." Er sprach sie mit all dem, was sie hasste, an. Und sie reagierte nicht. Desdemona schien nicht einmal anwesend zu sein. Mit ihren Gedanken war si ganz woanders. Ihr Blick lag in weiter Ferne. Nervös wirbelte sie das Brotmesser in ihrer Hand umher. Ihr linkes Bein stand nicht still.
"Desdemona MacKenzie!", rief Nawin nun mit fester Stimme. "Was ist los mit dir?"
"Nichts, nichts.", murmelte Desdemona abwesend. Ungläubig, wie auch besorgt hob Nawin seine Augenbrauen. Er setzte an noch etwas zu sagen, doch ließ es dann bleiben. Stumm starrte er auf seine Suppe. Die Lippen zu einer festen Linie zusammengepresst.
"Mika!", zischte Will mir so leise zu, dass nur ich ihn verstehen konnte. "Du kannst mir nicht sagen, dass nichts ist!" Mit einem leichten Kopfnicken deutete er auf Desdemona.
"Das geht dich nichts an, Will.", flüsterte ich ihm zu. "Bitte halte dich daraus. Lass mich das machen."
Frustriert schüttelte Will seinen Kopf. "Willst du mich eigentlich verarschen, Mika?", zischte er leise. "Das sieht nicht so aus, als würdet ihr einen kleinen Spieleabend veranstalten. Oder als hättest du ein Problem mit einem der Schüler. - Verflucht, das ist etwas Ernstes, oder?!" Er hatte sich mir nun vollkommen zugewandt. Seine grauen Augen schienen mich förmlich zu durchbohren. "Lass mich dir helfen! Oder euch. Wie auch immer." Eindringlich packte er mich an den Schultern. Wandte nicht einmal seinen Blick ab. Blinzelte nicht einmal. "Nur weil ich dein Bruder bin, musst du mich nicht aus all deinen Angelegenheiten heraushalten!"
"Wie du schon sagtest. Meine Angelegenheiten.", rutschte es mir ungewollt eisig heraus. Wills Griff lockerte sich schlagartig. Mit seinem Stuhl rutschte er zurück. In diesem Moment schienen wir so unglaublich weit entfernt voneinander. Und als er auch noch aufstand, riss er einen Abgrund zwischen uns in den Boden. Ohne mir noch einen einzigen Blick zu schenken, drehte er sich um und ging. Ein Gefühl der Leere blieb in mir zurück. Ich schaffte es immer wieder, Menschen, die ich liebte, von mir zu stoßen. Frustriert stützte ich meine Stirn auf meine Hand. Das hatte ich nicht gewollt. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Immer wieder stieß ich Will vor den Kopf. Immer wieder wies ich ihn ab. Ließ ihn mir nicht helfen. Dabei wäre Will mehr als eine große Hilfe. Er war nicht schwach. Er konnte sich selbst verteidigen. Weshalb also versuchte ich ihn aus diesen Angelegenheiten herauszuhalten? Immerhin betrafen sie nicht nur mich.
Kein Wunder dass Will das langsam nicht mehr mitmachte. Er wollte helfen. Für mich da sein. Ich war die Schwester, die er nicht kannte. Obwohl wir uns schon eine Weile kannten, waren wir noch immer Fremde für einander. Er wollte das ändern, doch ich ließ ihn nicht. Wieso ließ ich ihn nicht?

Seit dem Abendessen hatte ich Will nicht mehr gesehen. Es machte mich fertig. Dabei war es meine Schuld. "Mach dir keinen Kopf.", sagte Desdemona mit einem Blick auf die Uhr. Sie lag auf ihrem Bett und warf immer wieder einen kleinen Antistressball in die Luft, den sie jedes mal wieder auffing. Auch ich blickte auf die Uhr. Dreiundzwanzig Uhr siebenundzwanzig. Geschockt starrte ich auf die Uhr. Schon so spät? Mein Magen wurde ganz flau. Nicht mehr lange ...
Desdemona warf ihren Antistressball immer höher und wenn sie ihn fing, knetete sie erst einmal ein, zwei mal darauf herum, bevor sie ihn wieder in die Luft warf.
Was, wenn ich Will nicht mehr wieder sah? Schmerzlich erinnerte ich mich daran, was dann das letzte wäre, was ich zu ihm gesagt hatte. Und wie ich es gesagt hatte. Wills verletztes Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. "Scheiße!", rief ich aus und zerquetschte mein Kissen.
"Ja. Scheiße.", murmelte Desdemona trocken und fischte ihren Ball erneut aus der Luft. Ihre Finger krallten sich in die blaue Masse. Soweit ich wusste, nannte sie ihn immer "Antiwutball". Sie hatte ihn von ihrer Tante bekommen, als sie hier her gekommen war. Eigentlich wollte sie ihn genau deswegen nicht benutzen. Und auch, um ihre Tante nicht vor ihrer Wut zu schützen. Wenn sie ihn benutzte war ihr, als hätte Cassandra Darkstone gewonnen. Doch jetzt war ihr das vollkommen egal. Wahrscheinlich bemerkte sie gerade nicht einmal, dass der von ihrer Tante war. "Scheiße.", murmelte Desdemona. Und wieder. "Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Worauf haben wir uns da nur eingelassen? Wir hätten das verflucht noch mal, jemand anderem überlassen sollen!"
"Ja. Hätten wir. Vermutlich.", brachte ich heraus. Mir war so übel. Ich drückte mein Kissen noch ein wenig fester.
"Aber vermutlich hätte dieser jemand genauso gedacht. Und letzten Endes hätte es niemand gemacht.", sagte Desdemona. "Dieser Pisser." Sie knautschte ein wenig aggressiver auf ihrem Antistressball herum. Brummend stimmte ich ihr zu. Hätte ich jetzt geredet, hätte ich mich vermutlich übergeben. Wieso war ich nur so nervös? Es war nicht das erste mal, dass ich mit Jägern zu tun hatte. Und dieses mal würde ich auch niemanden töten. Weshalb also?  

Als ich das nächste mal auf die Uhr schaute, war es bereits viertel vor zwölf. "Scheiße!", rief ich aus und sprang aus dem Bett, wobei ich erst einmal über meine Decke stolperte, die halb auf dem Boden lag. Ich konnte mich gerade noch am Tisch abstützen. Zum aller ersten mal fing Desdemona ihren Ball nicht und er rollte unter den Tisch. Wir beide waren still. Warfen uns nur kurz einen Blick zu. Sie nickte. Es war so weit.
Desdemona erhob sich schweigend und öffnete die Zimmertür. Sie lugte heraus. Da die Luft rein war, winkte sie mich zu sich. Angespannt traten wir auf den Gang und zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen. Und sei es nur das leise Heulen des Windes. Wir erschraken vor unseren eigenen Schatten. Desdemonas Augen standen nicht still. Ständig huschten sie von einer Seite zur anderen.
In der Eingangshalle angekommen, erwartete uns schon Ariadne. "Na endlich. Ich dachte schon, ihr würdet kneifen.", informierte sie uns gleichgültig und betrachtete eines, der im Licht silbrig funkelnden, Messer. Entsetzt starrte ich sie an. In ihrer linken Hand hielt sie locker ein Messer, während sie drei andere an ihrem Gürtel befestigt hatte. Ariadne lachte spöttisch auf, als sie meinen Blick bemerkte. "Was hast du denn bitte erwartet? Dass ich unbewaffnet in die Höhle des Löwen schleiche? Das kannst du vergessen!" Sie steckte das eine Messer zu den anderen und kam auf mich zu. Kühl betrachteten mich ihre eisigen Augen. "Das hier ist kein Spiel, Mika. Das hier ist ernst." Ariadne trat einen Schritt zurück und musterte mich aus unergründlichen Augen. "Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, ob es eine so gute Idee gewesen ist, dir diesen Plan in den Kopf zu setzen.", stellte sie zweifelnd fest. Doch dann zuckte sie mit ihren Schultern und setzte eine gleichgültige Miene auf. "Egal. Es ist zu spät um alles neu zu planen."
"Hey.", grüßte uns Liam, der plötzlich hinter uns aufgetaucht war. Erschrocken presste sich Desdemona ihre Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. Entschuldigend hob Liam seine Hände. "Tut mir leid." Desdemona atmete einmal tief ein und aus, als sie ihre Hand wieder sinken ließ. "Oh ha.", murmelte sie.
"Sorry.", meinte Liam und lächelte sie schief an. Desdemona boxte einmal gegen seine rechte Schulter, was Liam schweigend hinnahm.
"Hallo.", sagte nun auch Theodor vorsichtig, der nun hinter Liam aus dem Schatten getreten war. Dass ich ihn nicht bemerkt hatte war verwunderlich. Immerhin war Theodor recht groß. Er lächelte einmal kurz und schloss seine dunkle Jacke.
Ariadne musterte ihn stirnrunzelnd. "Von dem da war nicht die Rede gewesen.", sagte sie trocken.
Theodor zuckte desinteressiert mit seinen Schultern. "Das kann dir doch egal sein. Ich bin auch nicht gerade darüber erfreut, mit dir arbeiten zu müssen." Er war nicht ein bisschen von Ariadne beeindruckt oder verängstigt. Sie wir ihm schlicht und einfach vollkommen egal. Sie schien auf ihn überhaupt keine Wirkung zu haben. Das bemerkte auch Ariadne, die nur kurz die Stirn runzelte.

Plötzlich schlug es Mitternacht. Der Gong hallte düster und unheilvoll durch das alte Gemäuer.

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