Kapitel 72.2 - Das Haus der Klahans

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Langsam ging das Besser zu Boden. Manou verdrehte ihre Augen. "Ja, ja. Ganz dramatisch. Wunderbar.", sagte sie sarkastisch. "Willst du mir vielleicht noch etwas demonstrieren? Es ist ja nicht so, als hätte ich schon genug von euren tollen Tricks gesehen." Sie wedelte kurz mit ihrer Hand. "Husch, husch. Macht, dass ihr von hier verschwindet. Ich habe gerade keine Lust gegen euch zu kämpfen. Haut wieder ab.", sagte sie trocken.

Wütend hatte Nawin es wieder geschafft sich aufzusetzen. "Wir hauen nicht ab! Sie befinden sich in meinem Haus!", rief er. Seine Hand hielt so gut es ging die Wunde zu, in der noch immer das Messer steckte.

Erkenntnis erschien in Manous Augen. "Ah. Du bist also dieser Nawin Klahan. Du bist wegen deinem Bruder hier.", stellte sie verwundert fest. "Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass du irgendwann hier her kommen würdest." Sie seufzte und täuschte ein freundliches Lächeln vor. "Wie schade, dass du erst darauf gekommen bist, dass dein Bruder hier ist."

Nawin war sofort auf hundertachtzig. "Wieso? Was haben Sie mit Saimon gemacht?!", rief er zornig. Manou lachte. "Komm mal wieder runter, Kleiner. Deinem Bruder geht's gut." Nawin presste seine Lippen fest aufeinander. Seine Hand glitt zum Griff des Messers in seinem Oberarm. Wollte er es etwa gegen Manou einsetzen? "An deiner Stelle würde ich das lassen.", merkte Manou gelassen an. "Das Messer stoppt bis jetzt noch etwas die Blutung, aber wenn du es rausziehst, wirst du höchst wahrscheinlich verbluten."
Widerwillig ließ Nawin vom Griff des Messers ab.

"Da wir das nun geklärt haben, muss ich euch nun höflichst darauf hinweisen,  zu gehen.", erklärte Manou mit einem selbstgefälligen Lächeln. Desdemona neben mir sah so aus, als würde sie überlegen, ob sie Manou nun selbst, anstelle ihrer Schatten angreifen, sollte.
"Wir werden nicht gehen, solange wir nicht Saimon haben!", zischte Desdemona. Ihre Augen funkelten angriffslustig.
"Na, na. Hat man dir nicht beigebracht, auf Erwachsene zu hören?", meinte Manou spöttisch. Desdemona presste ihre Lippen wütend aufeinander. Ihr lag bestimmt ein böser Kommentar auf der Zunge, doch sie ließ es dann doch sein. Das war wohl auch besser so.

Manou schüttelte lächelnd ihren Kopf. "Hat von euch denn noch nie jemand etwas von 'Erpressung' gehört? Wisst ihr ... Um jemanden zu erpressen, benötigt man ein Druckmittel.", belehrte sie uns. "Und das ist in diesem Fall der kleine Saimon. Ohne ihn würdest du nicht das tun, was wir von dir verlangen. Siehst du also, wieso ich dir Saimon nicht überlassen kann? So funktioniert nämlich Erpressung."

Da Manou uns nicht in die Nähe von Saimon lassen würde, wir aber nicht ohne ihn gehen würden, lief es nun darauf hinaus, Manou aus dem Weg zu schaffen. Ich glaubte, dass wusste sie genauso gut wie ich. Doch sie blieb gelassen. Kämen wir auch darum herum mit Manou zu kämpfen? Das Risiko, dass noch jemand verletzt werden würde war mir zu hoch. Klar, ich könnte Manou einfach dazu zwingen, still stehen zu bleiben. Doch sie würde sofort erkennen, wenn ich etwas vorhätte. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie noch einige Asse im Ärmel hatte.

Was also konnte ich tun? Ich wusste, dass Manou eine leidenschaftliche Jägerin war. Allerdings hatten die Jäger ihre Tochter getötet, die sie geliebt hatte. Sie musste eigentlich nicht mehr so angetan von den Jägern selbst sein. Wäre es möglich, sie auf unsere Seite zu ziehen?

"Sie sind Manou.", sagte ich.

Sofort lag die Aufmerksamkeit der Jägerin auf mir. Ihre Augenbrauen hatten sich misstrauisch zusammen gezogen. "Woher kennst du meinen Namen?", wollte Manou lauernd wissen.

"Das ist nicht so wichtig.", meinte ich und fuhr fort. "Sie haben eine Tochter. Ihr Name ist Marlena."
"Woher weißt du das?!" Manou war sichtlich entsetzt, dass ich das wusste. "Du kannst nicht in meinen Kopf sehen. Woher also weißt du das, zum Teufel?!" Ich ignorierte ihre Frage. Sie brauchte nicht zu wissen, dass ich in Damons Kopf geschaut hatte. Und sie musste nicht wissen, dass ich, wenn ich es nur wollte, in ihren Kopf sehen könnte.

"Sie wurde von einem Jäger getötet.", sagte ich und sah in Manous entsetzte Gesicht. "Und die anderen Jäger haben es zugelassen. Niemand wollte auf Sie hören." Ich machte ein paar ruhige Schritte auf Manou zu.

"Wer bist du?", fragte Manou leise. "Wie kannst du davon wissen?" Sie sah so aus, als wollte sie vor mir zurück weichen.

"Sie haben Marlena geliebt. Nicht wahr?" Ich beobachtete Manous Reaktion. Die Jägerin zitterte am ganzen Körper. Erst ganz leicht, doch nun stärker. Ihre Augen glänzten verräterisch.
"Dennoch sind Sie den Jägern treu ergeben. Erklären Sie mir das.", sagte ich. "Immerhin haben sie Ihre Tochter vor Ihren Augen getötet." Manou schwieg. Obwohl es vielleicht nicht sehr einfühlsam wirkte, fuhr ich unbeirrt fort. "Ihr Mann hat verstanden, dass die Jäger nicht das Richtige tun und hat sich von ihnen abgewandt. Und obwohl die Jäger Marlena getötet haben, gehören Sie noch immer zu ihnen." Abwartend sah ich die schweigende Jägerin vor mir an. Die Stille in dem Haus war beinahe schon unheimlich. "Sind Sie etwa so blind? Spätestens nach der Ermordung Ihrer Tochter hätten Sie erkennen müssen, dass die Jäger alles andere als Frieden und Gerechtigkeit in die Welt bringen." Manou sagte noch immer noch kein Wort. Mit hängenden Schulter sah sie mich ausdruckslos an. "Sie scheuen sich noch nicht einmal davor, ihresgleichen zu töten.", beendete ich in aller Ruhe meine Rede.

In diesem Moment fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht genauso grausam war wie die Jäger. Allein wie ich jetzt mit dieser gebrochenen Frau sprach. Ich war eiskalt. So ähnlich war ich auch bei Damon gewesen, als ich ihn im Kerker verhört hatte. War es vielleicht ein Fehler gewesen, so extrem mit ihm umzugehen?

"Du bist kaltherzig, Mädchen.", sprach Manou. Ihre Stimme klang nun ganz rau. "Woher auch immer du das weißt. Du hast nicht das Recht, über mich zu urteilen als wüsstest du alles. Aber das macht ihr Ghosts ganz gerne. Nicht?" Mit glanzlosen Augen betrachtete sie mich. "Ihr Ghost wisst es immer besser. Ihr glaubt aber auch, euch gehört die Welt und jeder behandelt euch zu Unrecht falsch. Kennst du überhaupt die ganze Geschichte?" Als von mir keine Reaktion kam, wandte sie sich an Desdemona und Nawin. "Kennt ihr denn die ganze Geschichte?" Während Desdemona Manou einfach nur feindselig ansah, zog Nawin verwirrt die Augenbrauen zusammen.

"Wovon sprechen Sie da?", wollte Nawin wissen.

Manou lachte mit dunkler Zufriedenheit auf. "Wusste ich es doch.", sagte sie. "Ihr habt keine Ahnung." Sie sank aus der Luft zurück auf den Boden. Prüfend musterte sie Desdemona, doch da die ihre Schatten noch immer zurück hielt, sah sie wohl keine Gefahr. "Vermutlich glaubt ihr auch, dass die Jäger euch nur jagen, weil sie neidisch auf eure Fähigkeiten sind oder sie euch zu mächtig finden." Manou schüttelte über uns den Kopf. "Pff.", machte sie abwertend.

Dann wandte sie sich mir zu. "Du da. Woher hast du dein Wissen über die Jäger?", wollte sie wissen. Nun ja. Von den anderen Elementary. Meiner Familie. Und aus dem Tagebuch von Damons Vorfahren. "Ist mir auch egal.", fuhr Manou fort. "Aber die ganze Geschichte kennst du nicht." Wieso? Ich hatte das Tagebuch gelesen. Von den Anfängen der Jagd. Wurden da nicht sogar die Gründe genannt? Sie konnte mir nicht vorwerfen, nichts zu wissen! Ich hatte mein Wissen aus der Quelle selbst! Wie also konnte Manou es wagen, mir etwas anderes einreden zu wollen? Was glaubte sie zu wissen?

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Quelle mehr als vertrauenswürdig war.", erwiderte ich.
Manou lächelte etwas abfällig. "Ach ja? Bist du dir da auch wirklich sicher?", fragte sie. "Und selbst wenn deine Quelle vertrauenswürdig war. Bist du dir sicher, dass du alles gelesen hast? Von Anfang an?" Eindringlich sah sie mich an und tatsächlich kamen Zweifel in mir auf. Konnte Manou vielleicht doch Recht haben? Hatte ich zu voreilig geurteilt? Wenn das wirklich stimmen sollte, dass ich nicht die komplette Geschichte von den Jägern und den Ghosts kannte ... War ich dann wirklich besser als die Jäger? Ich war doch genauso blind wie sie. Wenn nicht sogar noch blinder.

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