Kapitel 76 - Beste Freunde

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Langsam ging Damon an mir vorbei und verließ seine Zelle. Mitten im Gang blieb er stehen und sah noch einmal zu mir. Ich trat nun ebenfalls aus der Zelle.

"Bist du dir sicher?", wollte Damon zweifelnd wissen, doch ich nickte nur.
"Was habe ich zu verlieren?", stellte ich die Gegenfrage.
Damon schwieg. Er kannte meinen Standpunkt.
"Leb wohl, Damon.", sagte ich, ihm zugewandt. "Ich hoffe, du machst es besser, als bisher."
"Das klingt aber nach einem endgültigen Abschied.", bemerkte Damon.
"Das ist es auch.", klärte ich ihn auf. "Ich schätze, wir werden nie wieder die Gelegenheit haben, miteinander zu reden." Ich musterte ihn währenddessen lange. Versuchte mir jede Einzelheit von ihm in mein Gedächtnis zu meißeln. "Vielleicht werden wir uns während des Kampfes wiedersehen. Auf verschiedenen Seiten. Und entweder werde ich an diesem Tag sterben, oder für immer untertauchen." Ich lächelte traurig. "Zum Teil habe ich die Zeit mit dir wirklich genossen. Aber ansonsten hast du mir nur Leid gebracht." Ich lachte leise auf. "Das klingt merkwürdig. Oder?"
"Überhaupt nicht.", meinte Damon. Seine Stimme klang belegt. Er sah nicht gerade fröhlich aus über meine Worte. Eher traurig. "Mir erging es nämlich genauso." Auf einmal wanderte seine rechte Hand zu meinem Gesicht und er legte sie vorsichtig auf meine Wange. Sanft strich er einmal mit seinem Daumen darüber. Damon sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er kam gar nicht erst dazu.

"FASS SIE NICHT AN!", brüllte jemand. Schnelle Schritte waren zu hören. "HALTE ABSTAND VON IHR, FIRELIGHT!" Sofort zuckte Damon zurück und brachte wieder Distanz zwischen uns. Ein wutentbrannter Will kam angerannt. Kaum war er nahe genug, ergriff er meine Hand und zog mich hinter sich. "Dass du es überhaupt noch wagst, ihr in die Augen zu sehen!", zischte Will drohend.
Damon erwiderte nichts. Er blieb stumm. Will drehte sich halb zu mir um. "Hat er dich verletzt?", fragte er.
"Will, ich bin nicht aus Glas." Ganz im Gegenteil.
Plötzlich verdunkelte sich Wills Miene. Sein Blick schwenkte zurück zu Damon. "Du. Wie bist du überhaupt aus der Zelle gekommen?" Damon antwortete zuerst nicht. Er schien zu überlegen, wie er aus der Nummer wieder heraus kam. Umso mehr überraschte mich, was er nun sagte. "Mika wollte mit mir über Saimon reden.", log Damon. "Ich habe die Gelegenheit gesehen und sie gezwungen, die Tür zu öffnen." Unglaublich. Er versuchte tatsächlich, mich da heraus zu halten. Ich konnte Damon nur anstarren und musste echt aufpassen, dass mir der Mund nicht aufklappte.
"Hast du sie verletzt?", knurrte Will schon fast. Jetzt sah ich ungläubig zu mir. Glaubte er das ernsthaft? Er wusste doch, dass ich Damon im Notfall entweder stoppen oder manipulieren könnte. Vergaß er das etwa?
Will packte Damon plötzlich am Kragen. "Ich schwöre dir, Firelight, du wirst dir wünschen, für immer in dieser Zelle geblieben zu sein!"
Gleichgültig sah Damon meinen Bruder an. "Mach, was auch immer du willst."
Die Lippen meines Bruders verzogen sich zu einem düsteren Grinsen. "Wie schön."
Ich bemerkte, dass die anderen mit schnellen Schritten auf uns zu kamen. Alle blieben stehen, als sie erkannten, was gerade vor sich ging. Und dennoch hielt niemand Will auf.
Auf Desdemonas Lippen erschien ein süffisantes Grinsen.

Will war gerade dabei, mit seiner Faust auszuholen, als ich einschritt. "Halt.", sagte ich.
"Was soll das, Mika?", fragte Will leicht genervt.
"Erstens: Damon hat mir nicht angetan.", sagte ich. "Zweitens: Ich habe ihn freiwillig gehen lassen. Es war meine Entscheidung." Fassungslos sah Will zu mir. Dabei vergaß er vollkommen, dass er Damon noch am Kragen hielt. Diesen hatte er losgelassen. Damon trat einen Schritt zurück und richtete sein Oberteil.
"Du hast was getan?!", rief Will ungläubig.
"Ich habe Damon freigelassen.", wiederholte ich ruhig.
Ich spürte die Blicke von allen an mir kleben. Vor allem Will und Desdemona missfiel was ich getan hatte. Aber Desdemona hatte momentan sowieso keine hohe Meinung von mir. Es ärgerte mich, dass sie nicht verstand. Andererseits konnte ich ihre Wut verstehen.
Desdemona war kurz vor dem Platzen. Bei ihrem aufbrausenden Charakter wunderte es mich, dass sie noch nicht einmal die Kontrolle verloren hatte. Aber vielleicht war das bei einem normalen Obscura anders. Immerhin hatte ich noch diesen zusätzlichen Teil in mir.

Außer sich vor Wut, schritt Desdemona auf mich zu, packte mich unsanft am Kragen und presste mich fest gegen die Wand, sodass ich jede Unebenheit an meinem Rücken spüren konnte.
"Desdemona!", rief Will entsetzt. "Lass sie los!"
Doch Desdemona ließ mich nicht los. Ihre grünen Augen funkelten giftig. Der Ausdruck gefiel mir überhaupt nicht.
"Desdemona ...", sagte ich, doch sobald ich meinen Mund zum Sprechen geöffnet hatte, drückte Desdemona nur fester. Schmerz breitete sich in mir aus. Vor allem auch, da die Messerwunden noch nicht komplett verheilt waren. Ich verzog mein Gesicht.
"Du hinterhältiges Miststück!", fauchte Desdemona. "Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass nicht Saimon einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, sondern du!" Als ich erneut zum Sprechen ansetzte, hielt Desdemona mir mit ihrer freien Hand schmerzhaft den Mund zu. "Wage es bloß nicht mit mir zu sprechen!", zischte sie. "Es kommen doch sowieso nur Lügen und Mist heraus!" Schlug mein Herz?
Desdemonas Worte schmerzten mehr, als es ein Messer je könnte. Ich hatte das Gefühl, in tausende Stücke zu zersplittern. Die Tränen, die ich bei Damon noch erfolgreich zurückgehalten hatte, strömten nun unaufhaltsam meine Wangen hinunter. Den Damm, den ich aufgebaut hatte, hatten sie einfach mit sich gerissen. Ein herzzerreißendes Schluchzen entfloh mir.
"Desdemona!", rief mein Bruder drohend. Doch Desdemona ignorierte ihn. Allerdings hatte sie nicht mit Damon gerechnet. Dieser hatte sich von hinten an sie heran geschlichen und riss sie ohne zimperlich zu sein von mir. Er hielt sie, ohne darauf zu achten ob er ihr weh tat, im Schwitzkasten. "An deiner Stelle würde ich mich lieber fragen, weshalb Mika zu mir gekommen ist, um über ihre Sorgen zu sprechen, anstatt zu dir.", zischte er ihr leise ins Ohr, sodass nur Desdemona und ich es hören konnten. "Wusstest du eigentlich, dass allein du Schuld bist, dass sie sich jetzt für ein Monster hält?"

Desdemona wimmerte unter Damons schmerzhaften Griff. "Lass sie sofort los!", befahl Liam und ein ganzer Haufen von Schatten sammelten sich um ihn herum. Das hier würde aus dem Ruder laufen. Alle machten sich bereit einzugreifen. Und sie standen nicht unbedingt auf meiner Seite. Mein Tränenfluss war noch immer nicht gestoppt und ich wünschte mir einfach, weit fort zu sein und nie wieder zurückzukehren. All dem hier einfach für immer den Rücken kehren zu können. Nie wieder einen Gedanken an sie alle zu verschwenden.
Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, dass ich niemals diesen Brief bekommen hätte. Denn der hatte alles ins Rollen gebracht. Nein. Nicht nur der Brief. Auch die schicksalhafte Begegnung mit Damon im Wald.

Weshalb musste all dieser Mist ausgerechnet mir passieren? Wäre ich doch niemals mit dem übernatürlichem Kram in Kontakt gekommen.
Oder hätten mich meine Eltern doch einfach bei sich behalten. Es hätte wenigstens einen kleinen Teil der unglaublichen Last von meinen Schultern genommen.

Meine Tränen wollten einfach kein Ende nehmen. Mein Körper bebte. Gleich würde es so weit sein. Gleich würde ich in die Luft gehen. Ich unterdrückte das Gefühl, alles Leben in meiner Nähe zu beende, mit aller Kraft. Sie verstanden nicht. Sie alle. Wieso verstanden sie nicht?

Kurz meinte ich, dass meine Augen sich komplett schwarz verfärbten. Ich vernahm ein Lachen. Manous Lachen. Sie war wach. Deshalb waren sie vermutlich alle in den Kerker herab gestiegen.
"Scheint so, als würden wir die Jäger überhaupt nicht brauchen.", bemerkte sie triumphierend. "Nicht mehr lange und sie wird alles dem Erdboden gleich machen." Kaum hatten die anderen die Bedeutung ihrer Worte realisiert, erstarrten sie. Glichen Skulpturen. Jeder, wirklich jeder, sah zu mir. Ihre Blicke hingen an meinen Augen fest. Der ein oder andere erbleichte.
Damon war der Einzige, der vorsichtshalber zurückwich. Das sagte mir schon alles. Monster.
Sie alle. Sie alle glaubten nicht an mich. Sie alle glaubten, ich würde die Kontrolle verlieren. Vielleicht war das auch so. Vielleicht würde ich die Kontrolle und somit auch mich selbst verlieren. Niemand würde jemals erfahren, wie sehr ich dagegen ankämpfe.
Und wenn schon. Niemand würde es glauben. Was also hielt mich davon ab, aufzugeben?
Aufgeben war leicht. Federleicht. Es würde alles beenden. Endgültig.

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