Kapitel 79.3 - Die Leere danach und die endgültige Aufklärung

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Damon und ich sahen uns noch einmal kurz an, ehe er mich noch einmal ehrlich anlächelte. "Wir sehen uns.", sagte er. "Bestimmt." Das war der Abschied. Noch ehe ich ihm etwas sagen konnte, ging er auch schon und verschwand. Ob für immer, oder nur für eine Weile. Ich würde es eines Tages erfahren. Doch innerlich hoffte ich, dass wir uns wiedersehen würden. Auch wenn Damon viele falsche Entscheidungen getroffen und unschöne Dinge getan hatte. Ich konnte ihn einfach nicht hassen. Das brachte ich nicht über mich. Er war mir nicht egal. Trotz all dem, was zwischen uns geschehen war.

Und während ich ihm nachsah, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, ihn noch einmal zu fragen, wie er das düstere Geheimnis meiner Mutter erfahren hatte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen. Oh ja! Damon, wir würden uns definitiv noch einmal begegnen! Und sei es nur, um zu erfahren, wie er an Rheas gut behütetes Geheimnis gelangt war! Andernfalls würde Damon mir wohl für immer ein Rätsel bleiben.

Nachdem ich noch einige Augenblicke im Wald gestanden hatte, um meinen Gedanken nach zu hängen, entschied ich mich, dann doch zurückzukehren und mich der harte Realität zu stellen. Ich konnte die Augen nicht verschließen. Durfte sie nicht verschließen. Außerdem musste ich mich der Angst stellen, zu erfahren, wer alles sein Leben im Kampf gegen die Jäger gelassen hatte. Weshalb meine Mutter nicht sofort ihre Kräfte entfesselt und die Jäger getötet hatte, bevor diese auch nur einen von uns töten konnten, würde ich wohl niemals erfahren.

Als ich aus dem Wald trat, hielt ich Ausschau nach Mitgliedern meiner Familie. Anscheinend war ich doch länger fortgewesen, als ich es beabsichtigt hatte, denn die Leichen der Jäger waren schon zur anderen Seite getragen worden, während unsere Leichen sorgsam zu ihren Familien gebracht wurden. So wurde es mir leicht gemacht, mir einen Überblick zu verschaffen. Viele der Verstorbenen waren mir unbekannt, doch ich entdeckte auch bekannte Gesichter darunter.

Die Leiche des kleinen Saimon lag in Nawins Armen. Nawin war wohl wieder er selbst. Sein herzzerreißendes Schluchzen konnte ich bis hier her vernehmen. Ganze Wasserfälle an Tränen verließen seine Augen. Er war bloß noch ein Haufen aus Schmerz und Trauer. Mit Saimon hatte Nawin nun jeden aus seiner Familie verloren. Er war allein. Doch das war vermutlich nicht das Schlimmste, was ihm hätte passiere können. Ich musste nicht in seinen Kopf eindringen, um zu wissen, was er dachte. Nawin war es, der seinen kleinen Bruder getötet hatte. Und Nawin wusste das. Das würde er sich niemals verzeihen. Niemals.
Er würde nie wieder glücklich werden. Nicht mit dem Wissen, dass er seine gesamte Familie verloren hatte. Und dass er die Schuld daran trug, dass nun auch sein kleiner Bruder Saimon tot war.

Mein Blick schwenkte weiter zu Ariadne, die ich während des Kampfes über nicht gesehen hatte. Sie saß zusammen bei Dylan und Imogen. Ihre Schultern hingen nach unten und sie sah erschlafft aus. Mit trüben Augen starrte sie auf die reglose Gestalt zu ihren Füßen. Mein Herz wurde schwer, als ich erkannte, um wen es sich bei der Leiche handelte.
Grace sah friedlich aus. Ihre Augen waren geschlossen, während ihre Hände zusammengefaltet auf ihrem Bauch lagen. Dylan und Imogen lagen sich gegenseitig in den Armen und schluchzten um ihre verlorene Schwester.

Schnell wandte ich meinen Blick ab, um mir das nicht weiter ansehen zu müssen. Jetzt konnte ich Dylan noch nicht einmal hassen. Egal, was er zu mir gesagt haben mochte. In diesem Moment tat er mir einfach nur leid.

Mir fiel Desdemona ins Auge, die alleine zwischen zwei Personen stand. Ich überwand mich und ging zu ihr. Sie bemerkte mich noch nicht einmal, als ich neben ihr auftauchte. Mit einem leeren Blick betrachtete sie Cassandra Darkstone, die reglos im Gras lag. Ich schluckte, als ich Desdemona meine Hand auf die Schulter legte. Nun hatte auch Desdemona die letzte Person aus ihrer Familie verloren. So sehr sie ihre Tante auch zu deren Lebzeiten gehasst hatte, jetzt trauerte Desdemona.
Kurz sah sie zu mir und als sie mich erkannte, ließ sie es zu, dass ich durch ihre Maske hindurchsehen konnte. Ich sah die Trauer, von der ich bereits gewusst hatte, dass sie da war. "Es tut mir leid.", sagte ich leise.
Eine Träne rollte aus Desdemonas Augenwinkel. "Mir auch.", sagte sie leise und ehe ich irgendetwas tun konnte, um sie aufzumuntern, schlang Desdemona ihre Arme um mich und presste mich an sich. Ihre feste Umarmung kam unerwartet, doch ich erwiderte sie. Wir beide sprachen nicht weiter. Das brauchten wir gar nicht. Eine Weile lang ließen wir einander nicht los. Und das brauchte sie genauso wie ich. Wir brauchten einander. Wir waren nicht allein. Auch, wenn es manchmal so schien.

Als wir uns lösten, sahen wir beide auf die Leiche der Direktorin. "Sie hat mir den Rücken freigehalten, während ich außer Kontrolle war.", sagte Desdemona. Ihre Stimme klang tonlos. "Sie hat mich gerettet und ist dabei gestorben." Desdemona verstummte. Sie erwartete nicht, dass ich darauf etwas zu sagen hatte. Schließlich gab es auch nichts, was ich hätte sagen können.

Mein Blick fiel auf die zweite Person, die neben Desdemona lag. Entsetzt starrte ich auf die reglose Gestalt von Liam. "Ist ... Ist er auch ...?" Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu Desdemona. Deren Miene war nicht zu entziffern. Doch dann schüttelte sie ihren Kopf. "Nein. Er lebt noch. Aber er muss so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung.", sagte sie. "Er ist schon eine ganze Weile bewusstlos und ich glaube, dass er so schnell nicht wieder aufwachen wird." Sie riss ihren Blick von Liams regloser Gestalt und sah zu mir. "Ich glaube, du solltest zu deiner Familie. Sie braucht dich jetzt." Langsam nickte ich. "Aber versuch, nicht auszurasten. Auch, wenn du mittlerweile vermutlich die Kontrolle hast."
Ich seufzte. "Mach dir darum keine Sorgen. Selbst wenn ich noch ausrasten kann, wobei ich mir nicht einmal sicher bin, werde ich keine Gefahr mehr sein. Dazu kenne ich meine verbliebenen Fähigkeiten zu wenig."
Desdemona zog ihre Augenbrauen zusammen und runzelte ihre Stirn. "Wie meinst du das?"
Seufzend begann ich ihr zu erklären, was ich erfahren hatte. Während ich erzählte, klappte Desdemonas Mund auf und schloss sich auch nicht wieder. Als ich geendet hatte, war sie sprachlos. Das einzige, was sie herausbrachte, war: "Scheiße". Ich zuckte nur mit meinen Schultern. "Darüber mache ich mir jedenfalls nicht jetzt Gedanken. Später habe ich noch genug Zeit." Sie nickte leicht und gab mir einen leichten Schubs in die Richtung meiner Familie.

Vorsichtig ging ich auf sie zu. Schon von Weitem erkannte ich Will, der neben unserem Vater stand und seinen Blick nicht von den vier Gestalten am Boden abwenden konnte. Ich schluckte, als ich näher kam und es wagte, einen Blick auf die vier Leichen zu werfen. Wie angewurzelt blieb ich stehen und es war mir nicht möglich, wegzusehen. Sorgsam nebeneinander gelegt, erkannte ich Rhea, Cecile, Arthur und Hanne. "Nein.", hauchte ich und sofort schossen mir die Tränen in die Augen. "Das kann nicht sein." Von Cecile wusste ich ja schon, dass sie es nicht geschafft hatte. Doch nun auch noch die anderen beiden zu sehen, riss mein Herz in tausend einzelne Stücke. Arthur, der so ruhig und gelassen an die ganze Sache rangegangen war. Bei dem es so aussah, als hätte er vor nichts Angst und nichts zu befürchten. Nun lag er hier. Tot.
Der Großteil meiner Familie war tot. Und ich hatte keine Zeit gehabt, um sie richtig kennenzulernen. Ich kannte sie noch nicht einmal ein Jahr lang und dann war ich auch noch auf einem Internat gewesen und nicht bei ihnen zu Hause. Kalte Tränen befeuchteten meine Wangen und ließen nicht zu, dass sie wieder trockneten.
Und dann Hanne. Die Mutter, die ich mein Leben lang gekannt hatte. Die mich bedingungslos geliebt hatte. Die extra hier her gekommen war, um mich wiederzusehen, um mir beizustehen. Und nun hatte auch sie ihr Leben gelassen.

"Mika.", murmelte Will, als er mich bemerkte. Auf seinem, wie auch auf meinem Gesicht, flossen die Tränen. Wortlos zog er mich in seine Arme und wir weinten gemeinsam.

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