Kapitel 47.2 - In den Kellergewölben

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In dem Moment, in dem Dylan in den Raum platze und den Spitznamen seiner Schwester rief, schien die Zeit wie erstarrt. Als hätte jemand die Zeit gestoppt. Alles schien still zu stehen. Kein Ton war zu hören. Niemand wagte es zu atmen. Grace und Imogen hatten ihre Augen weit aufgerissen, Grace stand vollkommen verkrampft an der Wand. Niemand wagte es sich zu bewegen. Starre. Stille. Zeitlos.

Ich konnte nicht sagen, wie lange dieser Moment andauerte. Dieser Moment ging überdimensional lang. Ich spürte alles. Meinen eigenen Atem, den ich erschrocken angehalten hatte, wie ich mich verkrampfte, da ich nicht wusste, was passieren würde. Würde überhaupt etwas passieren? Ariadne so zu überfallen war sicherlich keine gute Idee.

Meine Umgebung fühlte sich auf einmal ungewöhnlich kalt an. Ich spürte Dylans Angst. Angst davor, dass es schief gehen würde. Angst vor Ariadnes Reaktion. Es schien beinahe, als würde ich genau in ihn hineinsehen können. Und vielleicht tat ich das in diesem Moment auch. Unbewusst.

Ich nahm alles war. Die Kälte der Kerker. Die dünne Luft hier unten. Das Schlagen der Herzen hier bei mir und das Schlagen der Herzen hinter der Geheimtür. Es waren fünf Stück. Ich spürte Ariadnes Unbehagen, ihren Schock darüber, ihren Bruder auf einmal zu sehen. Als das, was sie heute war. Wer sie heute war. Ich bemerkte ihren inneren Zwiespalt. Die Angst, die ihr kalt über ihre Haut floss wie Gift. Und ebendiese Angst war womöglich in der Lage alles zunichte zu machen.

Angst. Angst war ein Feind. Natürlich durfte man Angst haben. Würde man keine Angst kennen, wäre das mehr als ungewöhnlich. Doch manchmal verleitete die Angst uns dazu, schreckliche Dinge zu tun. Angst war ebenso wie Wut ein mächtiges Gefühl. Ein Gefühl, das sowohl Situationen retten, wie auch vernichten konnte. Wozu würde Ariadnes Angst sie leiten?

Zu den Jägern auf der anderen Seite der Mauer? Oder zu ihrem Bruder, der vor ihr stand?

Die Jäger hinter der Geheimtür wurden ungeduldig. Vielleicht spürten sie auch, dass etwas nicht stimmte. Dass Ariadne sie vielleicht niemals hineinlassen würde. Oder? Es entsetzte mich, dass ich nicht in der Lage war zu sehen, wie Ariadne sich nun entscheiden würde. Ich hasste das Ungewisse, doch das Leben war nun einmal ungewiss. Man konnte es nicht planen, es geschah ganz einfach. Und manchmal hatte man Glück. Oder aber auch Pech. Vielleicht auch mehr als Pech. Manchmal war es ein Desaster. Es kam ganz darauf an, aus welchem Blickwinkel man manche Situationen betrachtete.

Würde sie sich für die Jäger entscheiden, wäre es für ihre Geschwister ein Desaster. Für Desdemona, Liam und mich Pech. Für die Jäger allerdings Glück. Ist es nun verständlich was ich mit diesen Blickwinkeln auf verschiedene Entscheidungen meinte?

Ich spürte einen dicken Klos in meinem Hals. Eine gewaltige Last.

In meiner Vorstellung fing die scheinbar stehen gebliebene Uhr wieder an zu ticken. Vielleicht hörten es die anderen auch. Vielleicht auch nicht. Die Zeit schien wieder zu laufen.

Ariadnes Stimme ertönte. Leise. Gebrochen. War das noch die Ariadne, die ich kannte? "Dylan." Sie hauchte seinen Namen beinahe. Flüsterte. Ihre Stimme zitterte, war ein wenig höher als gewöhnlich. Ich konnte mir nun gut ihren Gesichtsausdruck vorstellen. Geweitete Augen, in denen sich die Angst und die Fassungslosigkeit spiegelte. Ihre Unsicherheit. Ein Spiegelbild.

Dylan wiederholte leise Ariadnes Namen. Das langsame, hallende Geräusch seiner Schritte bedeutete, dass er sich ihr vorsichtig näherte. Von Ariadne war noch nichts zu hören. Nur ihr unregelmäßiger Atem, wie auch das schnelle Klopfen ihres rasenden Herzens.

Grace löste sich aus ihrer Starre, wollte wie automatisch mit zu Dylan, im Angesicht mit ihrer Schwester stehen. Doch sofort hielt ich sie zurück. Es war zu viel für Ariadne. Allein schon Dylan zu sehen war zu viel für sie. Da konnten jetzt nicht einfach noch die anderen beiden dazu stoßen. Ich konnte Grace verstehen. Das konnte ich wirklich. Doch ich konnte auch Ariadnes Position verstehen.

Und plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Schluchzen, ein geflüstertes: "Es tut mir leid!", schnelle Schritte und letzten Endes ein verzweifelter Dylan, der laut: "Ariadne!", rief. Ariadne verließ den Raum und schnell wie auf dem Eis schien sie an uns vorbei zu rasen. Doch trotz alle dem konnte sie vor mir nicht die glitzernden Tränen auf ihrem Gesicht verbergen, die ihr über das Gesicht rannen.

In mir zog sich etwas zusammen, als ich Ariadne so sah. Sie schien mir gebrochen. Hatte es am Ende doch nichts gebracht, ihre Geschwister herzuholen? Hatte es sich bloß kaputt gemacht? Das wäre nämlich nicht unser Ziel gewesen mit dieser ganzen Aktion.

Nun konnte ich Grace nicht mehr davon abhalten, nicht zu ihrer Schwester zu rennen. Grace riss sich von mir los, rief Ariadnes Namen und rannte. Doch sie war bei weitem nicht so schnell wie ihre jüngste Schwester und der Abstand zwischen den beiden vergrößerte sich.

Imogen dagegen hatte sich still auf den Boden sinken lassen und starrte stumm auf einen unbestimmten Punkt auf dem Boden. Grace, die jetzt bemerkte, dass es keinen Sinn machte, Ariadne hinterher rennen zu wollen blieb stehen und sank mit hängendem Kopf auf die Knie.

"Kümmert ihr euch um Grace und Imogen.", began ich die Situation in die Hand zu nehmen. Ich zeigte keine Regung, keine Gefühle, die darauf schließen ließen, was in mir vorging. Eines der Dinge, die ich gut konnte. Eine Maske aufsetzen. Eine kalte, gleichgültige, resignierte Maske. Ich hasste sie und zugleich bot sie mir eine Zuflucht.

Desdemona schluckte und nickte. Ihr Blick star auf die zerbrochene Grace gerichtet. Ich legte ihr kurz meine Hand auf die Schulter. - Eine Geste der Beruhigung.

Liam hatte seine Lippen fest aufeinander gepresst, seine Augen waren düster, starrten ins Nichts. Besorgt sah ich ihn an. Als er das bemerkte, nickte er mir kurz zu und wandte sich Imogen zu. Ich ließ die Vier hinter mir, betrat den Raum, indem Dylan vollkommen allein an der Wand hockte, das Kinn auf seine Knie gebettet, während er sich verzweifelt seine Haare raufte. Seine Augen ließen mich für einen Augenblick zurück zucken. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Dylan war für mich der gut gelaunte Hitzkopf gewesen. Doch das hier, das war das komplette Gegenteil. Während seine Geste und seine Körperhaltung seine Verzweiflung zeigte, war sein Gesichtsausdruck und der Ausdruck seiner Augen etwas vollkommen anderes. Es widersprach sich in allem.

Ich öffnete meinen Mund, setzte an etwas zu sagen, doch schloss ihn dann wieder. Hier halfen keine Worte. Außerdem war ich alles andere als gut darin, dass sich jemand besser fühlte. Ich bekam es ja nicht einmal hin, dass ich mich nach alle dem selbst besser fühlte.

Seine Lippen waren wütend aufeinander gepresst, zu einer schmalen, unheilvollen Linie. Seine Kiefermuskeln waren komplett angespannt, seine Zähne knirschten. Seine Augenbrauen waren wütend zusammengezogen, sodass sich eine bösartige Falte auf seiner Stirn bildete. Doch das erschreckendste waren seine Augen. Dylans Augen die ansonsten Freunde und Wärme ausgestrahlt hatten, strahlten nun nichts als Kälte aus. Es war erschreckend, wie sehr seine Augen damit denen von Ariadne ähnelten. Es waren beinahe die selben kalten Augen, mit denen Ariadne ihre Feinde und Mitschüler durchbohrte. Doch diese Kälte kombiniert mit einem unermesslichen Zorn und Selbsthass, der Dylans Augen wie dunkles Eis wirken ließ, war ungeheuerlich.

"Ich habe es vermasselt.", fing er auf einmal leise an zu reden. Doch irgendetwas in seiner Stimme brachte mich dazu, jeden meiner Muskeln anzuspannen und meine Sinne einzuschalten. Seine leise Stimme hatte etwas bedrohliches in sich. "Es ist meine Schuld.", sprach er weiter und mit jedem Wort das er sprach, wurde sein Gesicht immer mehr zu einer Maske. Einer Maske, wie ich sie schon von Damon, Ariadne und von mir selbst kannte. Und das war nichts, was mich besser fühlen ließ. Es versetzte mich in Alarmbereitschaft.

Nun hob er seinen Kopf, seine nun zu Eis erstarrten Augen bohrten sich in die maskenartigen Augen, die meine Identität verschleierten. "Und du. Du bildest dir ein zu helfen, dabei machst du es nur noch schlimmer!" Dylan erhob sich, kam mir gefährlich nahe. Ich wollte zurückweichen, doch das wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen. "Wer auch immer du bist, du bringst nur Unheil über alles und jeden, dem du über den Weg läufst, Lune James!" Den Namen spuckte er mir vor die Füße, als sei es Gift.

Und zum aller ersten mal wusste ich nicht, ob mir Wegrennen helfen würde. Und irgendwie, so musste ich mir eingestehen, hatte Dylan recht. Ebenso wie er ein Recht darauf hatte, mich zu hassen. Und ich war mir nicht sicher, ob ich noch irgendetwas ändern konnte.

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