Kapitel 36 - Die Feinde unter uns

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Das konnte nicht wahr sein! Nein, das konnte einfach nicht sein! Das war unmöglich! Meine Augen weiteten sich vor Schreck. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Unfähig etwas zu sagen, starrte ich einfach nur auf die Gestalt, die sich aus den Schatten gelöst hatte. Es war unmöglich!

Die Haut fahl, was alles andere als gesund aus sah. Die Kleidung ziemlich in Mitleidenschaft gerissen. Es musste wohl mehrere Kämpfe gegeben haben, seit ich ihn das letzte mal gesehen hatte. Ob er welche wie mich getötet hatte?

Blut tropfte von seinem Gesicht und auch von der Waffe, die er in seiner Hand hielt. Ein Messer. Ein silbern glänzendes, Blut getränktes Messer.

Sein Gesichtsausdruck war nur noch eine einzelne eiserne Maske. Man sah ihm die Härte an, mit der er seine Mitmenschen behandelte. Was war nur aus ihm geworden? Oder war er etwa immer schon so gewesen und ich hatte es nur nie bemerkt?

Doch eines wusste ich schon seit längerem; wie sehr ich mich in ihm getäuscht hatte. Er war keineswegs der, für den ich ihn gehalten hatte.

Sein rötliches Haar schimmerte wie wildes Feuer im Schein der Fackeln. Seine schwarzen Augen sahen kalt und ohne jegliche Regung auf uns herab. Musterten uns beide kurz.

Doch etwas war nun da, was vorher noch nicht da war. Entsetzt bemerkte ich die Narbe, die sich an seiner Hand befand, mit der er die Waffe hielt. Eine lange Narbe, von der Fingerspitzte bis hin zum Handgelenk. Was war bloß passiert?  Weshalb war ich überhaupt besorgt? Es konnte mir vollkommen gleichgültig sein, was mit ihm war.

Er war bloß der Jäger, den ich einst meinen besten Freund genannt hatte.

Ich bekam kaum mit, wie Desdemona mich am Ärmel zurückzog. Aber ihm schien es aufzufallen, denn er schritt drohend auf uns zu. Ich konnte nichts tun, war wie gelähmt, war wie stumm. Das letzte mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er mich ein Monster genannt.  Es kam mir schon ewig lange her vor. Eine Ewigkeit. Aber wie lange war eine Ewigkeit? Ich glaubte, eine Ewigkeit kam jedem anders vor. Für eine Ewigkeit gab es keine Vorgaben von Zeit. Sie war einfach.

Es löste mich vollkommen auf, ihn jetzt zu sehen. Es warf mich aus der Bahn, ließ beinahe meine Maske fallen, hinter der ich mich schützte, seit ich hier angekommen war. Doch genau das durfte ich nicht tun, meine wahre Identität fallen lassen.

Doch er kannte die Narbe, die sich durch mein Auge zog. Diese hatte ich nicht ändern können. Würde er mich erkennen?

Desdemona zog mich immer weiter zurück, während er immer näher kam. Seine Miene verzog sich nicht um einen Millimeter. War es nun eine Maske oder sein wahres Selbst? Langsam erhob er sein Messer und die Schwärze seiner Augen schienen mich förmlich zu durchbohren.

Er würde es tun. Er würde seine Waffe einsetzen. Da waren ihm Tote egal. Er war kalt geworden. Was auch immer geschehen war, es hatte ihn verändert. Und das nicht zum Besseren. Oder hatte er nur so lange seine wahre Natur unterdrückt?

Allein seine Augen schienen mich mehrfach zu erstechen, doch ich hielt ihnen stand. Im Weglaufen war ich gut, doch ich konnte mich auch meinen Problemen stellen. Was allerdings nicht gerade oft vorkam. Bis jetzt war ich immer weggelaufen. Doch dieses mal nicht. Dieses mal würde ich bleiben. An diesem Ort fühlte ich mich wohl. Akzeptiert. Auch wenn das wohl nicht mehr lange der Fall sein würde. Irgendwann würden auch die Leute auf dieser Schule wissen, wer ich war.

Und ich konnte nicht sagen, wie sie reagieren würden. Vermutlich würden mir ihre Reaktionen nicht gefallen.

Er stand nun ganz dicht vor mir, blickte voller Kälte auf mich herab. Das Messer fühlte sich kalt an meiner Kehle an. Japsend versuchte ich das kalte Metall an meiner Haut zu ignorieren. Ich durfte meine Fähigkeiten nicht einsetzen. Sie würden mich nur verraten und in noch größere Schwierigkeiten katapultieren.

Desdemona schien wie erstarrt. Auch ich schien wie in einer Starre.

Meine Lippen bewegten sich kaum merklich. Hauchte seinen Namen, doch er schien es nicht einmal zu bemerken. "Damon."

Kalte Angst machte sich in mir breit. Ich konnte nicht gerade von mir behaupten, dass ich Messer mögen würde.

Plötzlich fing er an zu sprechen. Bei dem Klang seiner Stimme zuckte ich merklich zusammen. Selbst seine Stimme hatte sich verändert. Sie war rauer und tiefer, was um einiges bedrohlicher wirkte. "Wo ist sie?"

Eindringlich sah er mir in die Augen, als wollte er mich somit zwingen, es ihm so zu sagen. Ich wusste genau, wen er meinte. Er erkannte mich nicht. Wenigstens ein positiver Punkt heute.

Desdemona schien nun endlich wieder aus ihrer Starre erwacht zu sein, denn sie kam mir sofort zur Hilfe, sodass ich nicht antworten musste. Auch sie wusste, dass Damon mich meinte.

"Wen meinst du?" Ihre Stimme klang wieder kräftig, doch ich spürte, dass sie innerlich ganz und gar nicht ruhig war. Sofort lag Damons dunkler Blick auf MacKenzie.

"Mika.", sagte er kurz und angebunden, "Und ihr beide sagt mir jetzt sofort, wo sie ist!"

"Wir kennen keine Mika! Es geht keine Mika hier auf das Internat!" Desdemona stemmte ihre Hände in die Hüften. Sie schien sich nun wieder gefasst zu haben. Kurz schielte sie jedoch noch zu dem Messer, dass sich immer noch an meiner Kehle befand.

Damon fluchte leise. "Sie versteckt sich also." Er hatte eigentlich nur laut gedacht. Doch sofort war er mit seinen Gedanken wieder bei uns. "Ich weiß, dass sie hier ist! Sonst wäre meine Informantin nicht so verstört, dass sie kein gescheites Wort mehr herausbekommt!"

Schmerzlich bekam ich zu spüren, wie dich das kalte Metall an meinem Hals sich in meine Haut drückte. Es brannte. Das hier war kein normales Messer. Es brannte wie Feuer auf meiner Haut. Silber? Fest entschlossen unterdrückte ich meinen Schmerz. Ich durfte mir keine Schwächen leisten. Nicht jetzt. Und auch sonst niemals mehr.

Konzentriert versuchte ich meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Damon hatte von einer Informantin gesprochen. Einer Informantin, die hier auf die Schule gehen musste und die vollkommen verstört war. Genau das schien ihn zu beunruhigen. Es musste jemand sein, der eigentlich nicht zu verstören war.

Der Gedanke durchzuckte mich wie ein Blitz. Ariadne! Ariadne war eine Jägerin! Wieso hatte ich das nicht bereits viel früher bemerkt? Aber weshalb sollte ich sie so verstört und verängstigt haben, dass sie nicht einmal darüber sprechen konnte? Vielleicht lag die Antwort auf diese Frage in Ariadnes Vergangenheit.

Und wer wusste schon, ob nicht noch mehr Jäger hier zur Schule gingen?

Langsam spürte ich wieder diese plötzliche Wut, die mich überkam. Sie brodelte in mir, wie eine eingesperrte Bestie, die nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Doch das durfte ich nicht zulassen. Würde ich die Bestie freilassen, wüsste Damon, wen er hier vor sich hatte und wem er hier gerade ohne es selbst zu bemerken ins Fleisch schnitt.

Damon schien meinen Stimmungswandel jedoch zu bemerken und starrte meine Augen an. Diese falschen giftgrünen Augen, hinter denen die lodernde Wut lauerte. Einige Sekunden lang starrte er mir in die Augen, dann schien er endlich zu bemerken, dass er die ganze Zeit sein Messer in meine Haut drückte. Er zog es weg ohne die Miene zu verziehen. Schließlich trat er einige Schritte zurück, betrachtete uns noch kurz und dann grinste er finster.

"Die Jäger sind bereits unter euch. Sie werden sie finden und dieses mal wird es kein Entkommen geben. Die Jäger sind nahe." Er kehrte uns den Rücken zu und verschmolz mit der Dunkelheit des Ganges.

Seine Worte hingen wie eine gefährliche Drohung in der Luft.

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