Kapitel 1.2 - 16 Jahre später ✅

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Bei der Sache hatte ich ein ungutes Gefühlt. Na ganz toll. Weshalb genau, wusste ich nicht. Was sollte hier auch großartig passieren? Dennoch blickte ich ungeduldig auf die Anzeigetafel im Bus, um zu sehen, wie viele Haltestellen ich noch brauchte. Nur noch zwei. Ich wollte unbedingt hier raus! Nach der Sache mit Miss Collins hatte ich keine Lust auf noch irgendeine Begegnung, die mir unangenehm wäre. Außerdem wollte ich endlich meine Ruhe haben. Zumindest bis ich wieder nach Hause musste.

Obwohl ich nur über mich selbst den Kopf schütteln konnte und dieses unwohle Gefühl meiner Fantasie zuschrieb, wagte ich es nicht, mich umzudrehen, um zu sehen, wer mich da beobachtete. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee gewesen, dann würde ich wenigstens wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Doch ich tat es nicht. Wenn ich mir das nämlich nur einbildete, wäre es ziemlich peinlich. Und gerade in Anwesenheit meiner Mitschüler wollte ich mir um meinetwillen jede Peinlichkeit ersparen.

Normalerweise nahm zwar keiner Notiz von mir, geschweige denn, dass ich durchgehend beobachtet wurde. Das war wohl der Grund, warum ich dem Ganzen hier auch nicht so ganz traute. Und nach der Sache mit der Klausur konnte ich mir durchaus vorstellen, dass etwas nicht so ganz mit rechten Dingen zugehen konnte. Trotzdem zwang ich mich ruhig zu bleiben. Mir wäre ganz sicher nicht geholfen, wenn ich jetzt, womöglich sogar grundlos, in Panik verfallen würde.

»Nächste Haltestelle: Stadtwald.«, verkündete eine elektronische Frauenstimme. Endlich. Gleich konnte ich hier raus und mir ein ruhiges Plätzchen suchen. Zugleich erfüllten mich Vorfreude und Erleichterung. Außerdem würde ich endlich der stickigen und ekelig warmen Luft des Busses entkommen.

Erleichtert drückte ich auf den Halteknopf und erhob mich. Der Bus bog scharf um eine Kurve und ich musste mich wieder einmal bemühen, nicht hinzufallen. Das könnte sonst ziemlich peinlich werden. Kurz huschte mein Blick zu Josie und ihren Freunden, doch die hatten mich noch nicht einmal bemerkt. Nicht, dass sie mir irgendwelche Dinge an den Kopf werfen würden. Das taten sie nicht. Trotzdem war es mir immer wieder unangenehm, meine Mitschüler außerhalb der Schule zu treffen.

Erleichtert ging ich in Richtung der Tür, wobei ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten und wartete angespannt darauf, dass sie sich öffnete. Der Bus hielt überraschend vorsichtig und langsam öffneten sich die Türen mit einem unangenehmen Quietschen. Mir konnte es nicht schnell genug gehen. Immer noch spürte ich diesen möglicherweise existierenden Blick, der sich in meinen Nacken bohrte. Ich sprang hinaus und lief auf das grüne Dickicht zu. Meine Beine bewegten sich schon fast wie von selbst. Der frische Duft des Waldes war sehr angenehm. Mit zielstrebigen Schritten bog ich in den Wald ab. Unter meinen Schuhen knackte und raschelte es. Jedoch bemerkte ich noch, wie eine weitere Person aus dem Bus stieg. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Folgte mir etwa wirklich jemand? Was sollte das denn? Normal war das nicht. Erneut zwang ich mich zur Ruhe. Tief ein und ausatmen. Das bildete ich mir nur ein. Weshalb auch immer spielte meine Fantasie mir Streiche. Das hier war meine Heimatstadt. Hier geschah nie etwas, das auf irgendeiner Art und Weise negativ war. Selbst unsere Zeitung hatte kaum etwas zu berichten, abgesehen von Schulveranstaltungen oder Bau- und Sozialprojekten.

Dennoch war es merkwürdig, dass außer mir noch jemand hier ausstieg. Für gewöhnlich tat es nämlich keiner. Ansonsten hätte ich jetzt einfach nur gedacht, dass diese Person durch Zufall genau wie ich hier raus musste. Dies konnte natürlich auch trotzdem noch der Fall sein. Bestimmt steigerte ich mich in irgendetwas hinein. Kein Wunder, nachdem, was letzte Woche passiert war. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sich wegen dieses kleinen Vorfalls jetzt mein ganzes Leben ändern musste. Schließlich war jahrelang nichts dergleichen mehr passiert. Bis zur Klausur. Vielleicht sollte ich einfach mal wieder früher ins Bett gehen. Meist ging es mir danach besser. Das war es bestimmt. Anstelle abends zu viel Zeit mit Büchern, Filmen und Serien zu verbringen, sollte ich einfach früher schlafen gehen.

Also drehte ich mich nicht um, um nach zu sehen. Natürlich hätte ich mich auch einfach rein zufällig umdrehen können. Vielleicht irrte ich mich ja auch und mit mir war nur irgendein altes Ehepaar ausgestiegen, das eine Runde spazieren gehen wollte. Außer mir waren nämlich mehrere ältere Leute im Bus gewesen, da dieser auch am Altenheim vorbei fuhr. Ich kam mir wirklich dämlich vor. Wahrscheinlich machte ich mich unnötig verrückt. Es lag ganz einfach an der letzten Woche. Und amSchlafmangel. Leicht schüttelte ich meinen Kopf. Vielleicht brachte meine Mutter ja ein wenig Schokolade vom Einkaufen mit. Wenn wir unser Gespräch dann hinter uns hätten, könnten wir uns in aller Ruhe vor den Fernseher setzen und irgendeinen Film schauen. Immerhin war heute Freitag.

Der Weg unter meinen Füßen war uneben und man konnte hier leicht über die ein oder andere Wurzel stolpern. Jedoch würde es hier nicht so peinlich sein wie im Bus oder in der Stadt. Denn hier würde es niemand sehen. Vor allem nicht meine Mitschüler. Der Wind rauschte sanft durch die Baumkronen und ich strich mir eine verirrte schwarze Haarsträhne wieder zurück hinters Ohr. Vogelgezwitscher war zu hören.

Hinter mir ertönten Schritte. Weder schlugen sie eine andere Richtung ein, noch wurden sie schneller. Sie behielten ihr Tempo bei und liefen genau den Weg entlang, den ich gerade entlang lief. Und das Beunruhigende war: Das klang nicht so, als gehörten sie zu einem alten Ehepaar. Außerdem folgten die Schritte mir. Verunsichert begann ich die Uhr an meinem Handgelenk zu drehen.

Auf einmal schrie alles in mir danach, meine Beine in die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden. Doch ich ignorierte es, lief weiterhin im Normaltempo. Eigentlich keine gute Idee, doch ich erhoffte mir noch immer, dass ich mir das nur einbildete, dass die Schritte mir folgten. Vielleicht war es nur ein normaler Wanderer, der wie es der Zufall so entschied, den selben Weg einschlug, wie ich. Wieso sollte ich mir Sorgen machen? Wahrscheinlich übertrieb ich nur und bildete mir irgendetwas ein.

Dennoch verließ ich sicherheitshalber den Waldweg und verschwand im Gestrüpp. Wenn der Verfolger nun auch hier lang ging, würde ich Klarheit erhalten. Stumm kämpfte ich mich durch die Büsche und Wurzeln. Gleich würde ich mir eingestehen müssen, dass ich übertrieben hatte. Erneut widmete ich mich meiner Umgebung. Nicht weit von ihr war ein kleiner Fluss. Dieser war wirklich schön und vor allem im Sommer konnte man dort auch gut die Füße baumeln lassen. Leider hatte ich kein Handtuch dabei, weshalb das für heute zumindest ausfiel.

Die Schritte hörte ich nicht mehr. Mein Verfolger musste stehen geblieben sein. Oder er war in die entgegengesetzte Richtung abgebogen. Erleichtert begann ich zu lächeln. Ich wusste doch, dass ich mir das nur eingebildet hatte. Alles war in Ordnung. Würde ich meiner Mutter davon erzählen, würde sie ganz bestimmt lachen und behaupten, dass ich zu viele Filme geschaut hätte.

Neue Hoffnung überkam mich und ich beschleunigte meine Schritte. Optimistisch und gut gelaunt führte ich meinen Weg fort. In Gedanken war ich bereits am Fluss. Am Ufer gab es einen Baumstumpf, dort würde ich mich hinsetzen und meine Zeit genießen. Heute Abend würde das Gespräch mit meiner Mutter nervenaufreibend genug sein.

Einfach nur noch weg vom Waldweg. So hatte ich auch bessere Chancen, alleine zu sein. Hier kannte ich mich gut aus. Schließlich war ich nicht selten hier. Meine Mutter war, als ich noch klein war, oft mit mir hier gewesen. Und die Stelle am Fluss hatte sie mir auch gezeigt.

Auf einmal ertönten wieder die Schritte. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Kurz überkam mich ein eiskalter Schauer, der mir langsam über den Rücken kroch. Wurde ich wirklich verfolgt? War das keine Einbildung? Und fort war die Erleichterung. Einfach fort. Feine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Hektisch huschten meine Augen über die Umgebung. Wenn ich jetzt wirklich wegrennen müsste, würde das schwer werden. Hier gab es keinen befestigten Weg und ich müsste mich durch die Pflanzen kämpfen.

»Was machst du da? Renn, verdammt!«, rief mein Verstand, doch ich hörte nicht auf ihn. Das tat man vermutlich, wenn man etwas nicht wahr haben wollte. Man ignorierte die Tatsachen und lebte weiter in seiner Scheinwelt. So ruhig wie möglich lief ich weiter. Als wäre nichts. Vielleicht war auch gar nichts. Vielleicht war das nur ein Wanderer, der abseits der Wege nach einem kleinen Abenteuer suchte. Oder jemand, der glaubte, dass ich irgendeinen guten, geheimen Platz kannte. Also lief ich betont entspannt weiter.

Aber das war wohl eine der schlechtesten Ideen, die ich jemals gehabt hatte, denn mein Verfolger holte auf.


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