Kapitel 69.2 - Der Plan

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Meine Gesichtszüge entgleisten mir. Ungläubig starrte ich Damon an. Ich war unfähig etwas zu sagen. Nawin?! Nawin sollte ein Verräter sein? Das konnte nicht stimmen! Nawin war ein Ghost Elementary! Er hasste die Jäger über alles! Wie konnte er ...?
"Du lügst.", sagte ich leise. "Du musst lügen."
Damon sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. "Du weißt, dass ich nicht lügen kann.", widersprach er mir. "Immerhin bist du es, die mir die Antworten entzieht." Nawin konnte kein Jäger sein! Das war unmöglich! Das ergab doch überhaupt keinen Sinn!
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Desdemona! Was würde nur sein, wenn sie davon erfahren würde? Darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken. Und mein Bruder! Er und Nawin waren quasi schon beste Freunde! Hatte Ariadne davon gewusst?

"Na los.", riss Damon mich aus meinen Gedanken. "Frag mich. Das wirst du doch sowieso." Ich versuchte mich wieder zu fassen und mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Gut. Ich würde es herausfinden. Plötzlich fiel mir wieder ein, was Desdemona gesagt hatte. Nawin sollte sie auf einmal im Stich gelassen haben. War das vielleicht der Grund?

Ich legte mir die Worte zurecht. "Wie kann es sein, dass Nawin Klahan ein Jäger oder ein Verräter ist?", fragte ich langsam, aber eindringlich. Dieses mal sträubte Damon sich nicht dagegen, mir eine Antwort zu geben. Widerstandslos begann er zu sprechen. "Klahan ist kein Jäger. Aber er ist ein Ghost Elementary an einer bis vor kurzen noch versteckten Schule für ungewöhnliche Elementary.", begann Damon. "Es ist noch nicht lange her, dass Jäger seine Familie überfielen. Bloß Nawin überlebte." Er machte eine kurze Pause. "Nawin und Saimon." Als er meinen fragenden Blick sah, sprach er sofort weiter. "Saimon ist Nawins jüngerer Bruder. Wir halten ihn gefangen und zwingen Nawin somit, bei dem entscheidenden Kampf für uns zu kämpfen."
"Sonst wird sein Bruder sterben.", murmelte ich gedankenverloren.
Damon nickte. "Saimon wird ansonsten sterben.", stimmte er zu. Wie konnten die Jäger nur so abscheulich sein?
Jetzt ergab das alles für mich einen Sinn. Weshalb Nawin sich von Desdemona distanziert hatte und weshalb er meinte, dass es das Beste sei. Er wollte sie nicht mit da hinein ziehen. Er wollte nicht noch eine Person haben, um deren Leben er bangen musste. Aus diesem Grund konnte ich Nawin auch nicht böse sein. Er wurde erpresst. Aber vielleicht existierte eine noch so kleine Chance, seinen Bruder aus den Fängen der Jäger zu befreien und Nawin von seinem Deal mit den Jägern zu erlösen.

"Weiß Ariadne von all dem?", wollte ich wissen.
"Nein.", sagte Damon sogleich. "Selbst Ariadne weiß nicht alles, was unsere Angelegenheiten angeht. Keiner der Jäger weiß alles, außer ..." Er verstummte. Ihm war aufgefallen, dass er sich beinahe verplappert hatte. Sofort wurde ich aufmerksam.
"Wer ist euer Anführer? Ist es dieser alte Mann? Sag mir seinen Namen!", forderte ich und hatte Damon unwillkürlich an den Schultern gepackt. Ein Schaudern ging durch seinen gesamten Körper. Damon versuchte mir Stand zu halten. Sah mir fest in die Augen (zu etwas Anderem war er ja auch nicht fähig). Seine Miene war nicht zu lesen. Bebend versuchte er seine Lippen fest geschlossen zu halten. Doch wie auch schon zuvor, verlor er den Kampf gegen mich. Und so schoss ihm der Name aus dem Mund: "Edgar Mitchell." Kaum hatte er das gesagt, trat Ärger in sein Gesicht. Er verzog es und schwieg.

"Edgar Mitchell.", wiederholte ich. "Wer genau ist er?" Es war kein Name, der sofort an einen Jäger erinnerte oder der unter den Elementary bekannt war. Jedenfalls meinte ich nicht, dass jemand diesen Namen je genannt hätte.
"Er ist schon lange dabei.", erzählte Damon. "Während meine Familie die Jäger schuf, half seine Familie einige Jahre später dabei, sie auszubilden und sich geeignete Elementary auszusuchen. Edgar ist genau wie ich der einzige lebende Nachkomme seiner Familie. Er hat viele Erfahrungen in Kampf und Strategie. Dennoch wird er langsam zu alt. Deshalb hält er sich bedeckt und ist nur noch für Tätigkeiten innerhalb des Versteckes zuständig. Außerdem entwickelt er Pläne und sucht uns Informationen." Genervt presste er seine Lippen aufeinander.
Damon hatte es sichtlich satt, sich weiterhin meinem Willen zu beugen. Allerdings konnte er nichts dagegen tun. Und das wusste er genauso gut wie ich. "Edgar ist ein Wasser Elementary.", fuhr er widerwillig und mittlerweile etwas entkräftet fort. "Dieses Jahr wird er schon siebzig Jahre alt. Doch das macht ihn nicht weniger gefährlich. Obwohl er zuerst nachdenkt, bevor er handelt, kann er manchmal ziemlich impulsiv sein. Man sollte ihn trotz seines Alters nicht unterschätzen." Das war scheinbar alles, was es über Edgar Mitchell zu wissen gab.

Ich überlegte, was ich noch aus Damon heraus bekommen könnte. Plötzlich kam mir Nawin wieder in den Sinn. Ich musste ihm helfen. Er war keine schlechte Person. Er hatte einfach nur keine Wahl. "Wo ist Saimon?", fragte ich Damon eindringlich.
Damon seufzte. "Er ist in seinem alten Zuhause. Das ist nicht allzu weit von hier. Edgar hat ihn dort in den Keller gesperrt. Alle zwei Tage schaut jemand nach ihm und bringt ihm genug Nahrung, mit der er eine ganze Weile lang auskommt."
"Aha.", sagte ich ungeduldig. "Und wo ist sein Zuhause?" Am liebsten wollte ich sofort los und Nawins Bruder befreien. Immerhin blieben uns noch drei Tage. Das musste doch zu schaffen sein. Natürlich mussten wir erst Lady Darkstone über das alles informieren. Dann würde sie sich und die anderen Schüler auf den bevorstehenden Angriff vorbereiten können, während wir mal eben Saimon retteten. Damon hatte selbst gesagt, dass er sich nicht weit weg befand.
"Ein paar Kilometer weiter östlich. Du kannst es gar nicht verfehlen. Es ähnelt mehr einem Strandhaus, als einem richtigen Wohnhaus. Außerdem ist es etwas weiter von der nächsten Ortschaft entfernt.", antwortete Damon. Dann fügte er noch hinzu: "Wenn du Nawin mitnimmst, wird er es dir sicher zeigen können."

Dazu sagte ich nichts. Ich wusste nicht, ob es eine gute Idee wäre, Nawin mit zu nehmen. Schließlich wäre es bestimmt schwer für ihn, an den Ort zurück zu kehren, an dem er zuvor glücklich mit seiner Familie gelebt hatte. Und die war nun tot. Bis auf seinem Bruder jedenfalls.

"Gut.", sagte ich und beendete unseren Augenkontakt. Gab Damon wieder frei. "Ich denke, das war dann alles, was ich wissen wollte." Ich erhob mich und sah zu Damon hinab, der noch immer auf dem Boden saß. "Ich danke dir für deine, wenn auch etwas unfreiwillige, Kooperation." Er rappelte sich schnell wieder auf und trat einen Schritt vor mir zurück. Ich ignorierte das. "Sollte mir noch irgendetwas einfallen, komme ich zurück.", informierte ich Damon und wandte mich nun der Tür zu. Aber noch ehe ich sie erreichen konnte, begann Damon zu sprechen. "Egal was ihr alles unternehmt. Ihr habt keine Chance.", sagte er.
"Unterschätze uns nicht, Damon.", widersprach ich. "Wir werden ja am Ende sehen, wer gewinnt."
Auf einmal schwang Wut in seiner Stimme mit. "Es geht hierbei nicht ums Gewinnen, Mika!", rief Damon aufgebracht. "Es geht um einen Jahrhunderte alten Hass! Es geht um Leben und Tod! Für eine von den beiden Seiten wird es hier in drei Tagen enden! Für immer!" Das war mir sehr wohl bewusst. Dennoch unterdrückte ich ein Schaudern, als ich seine Worte vernahm. Dass er mir das jetzt so vollkommen offen sagte, machte das bevorstehende Ereignis nur noch realer. Und auch irgendwie bedrohlicher.

Mit einem Klopfen signalisierte ich Ariadne, dass sie nun die Tür wieder öffnen konnte. Kurz bevor ich Damon allein in seiner Zelle zurück ließ, hörte ich Damon etwas flüstern. Ganz leise. So leise, als sei er sich selbst nicht sicher, ob er wirklich wollte, dass ich es hörte.

"Du bist nicht die Einzige, die jemanden ein bisschen zu sehr gemocht hatte."

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