Kapitel 74 - Saimon

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Selbst nach einigen Minuten brachte keiner von uns ein Wort hervor. Unsere Welt war gerade um einhundertachtzig Grad gedreht worden.

Jäger als Helden.
Ghost Elementary als Monster.
Oder besser: Obscura.

Das klang so fremd. Das alles. Als Manou von den Taten der Obscura erzählte, klang das so, als habe das gar nichts mit uns zu tun. Als wären das fremde, böse Wesen. Doch Manou meinte damit uns. Wir waren die Obscura. Und das Böse war tief in uns verwurzelt. In jedem von uns.

Ich war glaubte ich sogar die, die am Besten damit klar kam. Denn schon zu oft hatte sich meine Welt ändern müssen. Man konnte sagen, dass ich mich bereits daran gewöhnt hatte. Obwohl man sich eigentlich niemals daran gewöhnen konnte.

Bei Nawin und Desdemona sah das allerdings anders aus. Sie glaubten ihr Leben lang zu wissen, was sie waren. Und dass die Jäger unschuldige, friedliche Ghost Elementary jagten. Einfach weil sie es konnten. Ihre Welt hatte sich komplett geändert. Jetzt waren sie nicht einmal mehr Elementary. Sie sind es nie gewesen. Keiner von uns.

Ein Gedanke kam mir. Ein schrecklicher Gedanke. Ungefähr die Hälfte der Leute im Darkstone Internat waren Obscura. Wenn - mittlerweile waren es nur noch zwei Tage - die Jäger kommen würden, wäre das eine Ausnahmesituation für die Obscura. Besonders, da es auch noch so viele Jäger sein würden. Jeder von ihnen würde die Kontrolle verlieren. Jeder von ihnen würde zu dem Monster werden, das Manou bereits jetzt in uns sah. Und wenn sie sich nicht kontrollieren konnten, würden alle sterben. Unschuldige, wie auch Jäger. Freunde konnten Freunde töten. Ein Bruder konnte seine Schwester töten.
Und sie würden noch nicht einmal wissen wie ihnen geschah, da keiner von ihnen diese Situation kannte. Kaum einer hatte je die Kontrolle verloren.

Ich musste das verhindern! Ich musste sie warnen! Nur, was wollte ich tun, um diese Katastrophe abzuwenden? Scheiterte ich, starben Unschuldige, wie auch Jäger. Die Welt würde von der Gefahr erfahren, die von den Ghosts ausging. Dieses mal würden wir vernichtet werden. Vollständig.

Erst jetzt bemerkte ich Manous breites Grinsen. Meine Augen weiteten sich. Nein. Genau das war der Plan. Sie lachte. "Wie ich sehe, hast du es verstanden.", sagte sie zufrieden. "Ich schätze, ihr wisst bereits von dem Ereignis, das euch in zwei Tagen erwartet. Und egal wie dieser Kampf endet; ihr werdet verlieren."

Desdemona hatte nun ihre Sprache wiedergefunden. "Wie meinst du das?!", rief sie. "Verdammt, was habt ihr vor?!" Sie war von ihrem Platz aufgesprungen und die Schatten sammelten sich rasant vor ihren Füßen.
"Frag das deine Freundin.", meinte Manou. Sie genoss es.
Mit panisch geweiteten Augen sah Desdemona zu mir. "Mika!"
Verbissen starrte ich Manou an. "Mika, sag es mir!", rief Desdemona hektisch. "Wie wollen uns die Jäger vernichten?!"
"Die Jäger werden uns nicht vernichten.", sagte ich trocken. "Das werden wir von ganz allein tun." Desdemona packte mich an den Schultern und schüttelte mich. Ich sah die Panik in ihren Augen. Die Verzweiflung.
"Jetzt sag schon! Sag es mir!", forderte Desdemona.
"Die Hälfte der Schüler auf dem Internat sind Obscura, Desdemona.", sagte ich leise. "Überleg doch mal. Beim Angriff der Jäger wird jeder von denen ausflippen. Die Jäger brauchen das noch nicht einmal zu überleben. Am Ende des Tages sind wir die Feinde der ganzen Welt."
Desdemonas Griff erschlaffte. Entsetzt starrte sie mich an. Sie schien nun auch zu verstehen, dass wir am Rande einer Katastrophe standen.
"Wir haben schon jetzt verloren.", flüsterte sie. "Bevor der Kampf überhaupt anfängt."
Ich nickte ausdruckslos. "Genau."
Nawin starrte schweigend den Boden. Gedanklich war er abwesend.

Auf einmal bemerkte ich, wie Manou mich ansah. Stirnrunzelnd sah ich zu ihr. Dieser Blick gefiel mir überhaupt nicht. Sie sah mich so an als sei ich eine Trophäe. Ein Ausstellungsstück.
"Du bist es.", murmelte sie. "Du bist Mika Lunar-Eclipse. Die verfluchte Elementary."
Ich erstarrte. Sie wusste es. Sie wusste wer ich war. Augenblicklich erhob sich Manou.
"Deshalb hast du gefragt. Weil es dich persönlich betrifft.", stellte Manou fest. Der Unterton ließ mich frösteln und Schlimmes ahnen. "Das Hybridmädchen." Kaum hatte sie das gesagt, bemerkte ich das metallische Blitzen. Doch es war schon zu spät. Begleitet von einem stechenden Schmerz fand das Messer seinen Weg in meinen Bauch. Erschrocken schnappte ich nach Luft und sah ungläubig zu dem Messergriff, der aus meinem Bauch ragte.

"Mika!", schrie Desdemona. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie mich an. Genauso plötzlich wie das Messer seinen Weg in meinen Bauch fand, wandte sich Desdemona mit einem vor Wut verzehrtem Blick Manou zu. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, wie sie ihre Hand hob. Schlagartig schossen die Schatten auf Manou zu, die keine Zeit mehr hatte, auszuweichen. Mit vor Schmerz aufgerissenen Augen ging die Jägerin schreiend in die Knie.
"Beweg dich nicht.", flüsterte Nawin besorgt mir zu. "Sonst verlierst du zu viel Blut. Außerdem reißt dein Bruder mir den Kopf ab, wenn ich dich nicht lebendig wieder mit zurück bringe." Er versuchte ein kurzes Lachen. Scheiterte jedoch kläglich. "Scheiße.", fluchte Nawin.

Manou begann plötzlich irre zu lachen, während ihr vor Schmerzen die Tränen in den Augen standen. "IHR WERDET STERBEN! IHR ALLE! IHR SEID MONSTER UND WERDET EINES TAGES ENDLICH VOM ANGESICHT DER ERDE VERSCHWINDEN!" Nun erfasste Manous Blick mich. Die Tränen waren zu Wasserfällen geworden. Sie zuckte unkontrolliert unter Desdemonas Schatten. "Und du.", flüsterte sie, unterbrochen von ihren Schmerzensschreien. "Du bist das Monster unter den Monstern. Du bist keine Geheimwaffe. Du bist ihr Untergang."

"SEI STILL!", brüllte Desdemona. Noch mehr Schatten stürzten sich auf die schreiende Jägerin, die nach ein paar weiteren Sekunden keinen Ton mehr von sich gab. Schwer atmend stand Desdemona vor ihren Schatten, die, als sie wichen, Manous reglose Gestalt unter sich freigaben. Die Jägerin hatte ihren Mund zum stummen Schrei aufgerissen. Ihre Augen dagegen waren vor Schreck und Schmerz geweitet.  

Keuchend sah Desdemona auf die reglose Jägerin.

"Ist sie tot?", wollte Nawin vorsichtig wissen. Zu seiner Erleichterung schüttelte Desdemona den Kopf. "Sie atmet noch. Steht nur unter Schock. Die kommt schon wieder zu sich." Gleichgültig wandte sich Desdemona von Manou ab. "Lasst uns jetzt Saimon holen und dann von hier verschwinden!", sagte sie und wandte sich mir zu. Bevor ich sie daran hindern konnte, zog sie mit einem Ruck das Messer aus meinem Bauch. Ein Schrei entwich mir.
"Desdemona!" rief Nawin. "Was tust du da?! Sie wird verbluten!" Hektisch suchte er mit seinen Augen nach etwas, mit dem er meine Wunde verbinden konnte.
"Wird sie nicht.", sagte Desdemona trocken. "Das da ist noch nicht einmal ihr Blut." Sie warf das blutverschmierte Messer beiseite. Zufrieden sah sie mich an, als sie bemerkte, dass ich verwundert auf meine Verletzung schaute. "Na siehst du. Es verheilt schon.", bemerkte Desdemona. "Genau wie ich es vermutet habe." Vermutet? Hieß das, ich hätte durch Desdemonas Experiment sterben können?!
Entgeistert starrte Nawin Desdemona an. "Du hast es nur vermutet?!", rief er laut aus, was ich dachte.
"Jetzt beruhige dich mal. Ich lag doch richtig. Oder etwa nicht?" Sie grinste. "Jetzt komm. Du willst doch deinen Bruder wiedersehen!" Sie ging auf die Kellertür zu. Doch dann drehte sie sich noch einmal zu mir. "Ist alles okay?" Besorgnis blitzte in Desdemonas Augen auf.
Ich nickte knapp. "Ja. Alles gut." Aber war ich mir da auch so sicher? Immerhin sollte ich nun der Untergang all derer sein, die ich kannte. Und von hunderten weiteren Elementary.
Desdemona deutete mit einem kurzen Kopfnicken auf Manou. "Hör nicht auf sie. Sie hat keine Ahnung."

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