Kapitel 3 - Der Brief und die Wahrheit? ✅

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Am nächsten Tag wurde ich tatsächlich entlassen. Die Verbrennungen waren schon viel besser verheilt, als Doktor Wilson erwartet hatte. Dies brachte mir einen nachdenklichen Blick des Arztes ein und auch ich war misstrauisch. Obwohl ich keine Ahnung von Medizin hatte, wusste ich, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Nicht stimmen konnte.

Die Fahrt nach Hause verlief schweigsam. Anfangs hatte meine Mutter noch versucht, die Erinnerungen aus mir herauszuquetschen. Natürlich zerrte das an meinen Nerven, doch ich verstand auch ihre Sorge. Sie hatte Angst. Sie konnte sich nicht erklären, wie es so weit kommen konnte. Aber anschließend hatte sie es aufgegeben, nachdem sie eingesehen hatte, dass sie so nicht weiterkommen würde. Allerdings hatte sich für mich bloß die Schonfrist verlängert.

Als wir zu Hause waren, verschwand ich sofort auf mein Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Ich wollte meine Ruhe. Außerdem musste ich überlegen, wie ich ihr das Geschehen erklären konnte, ohne als verrückt abgestempelt zu werden.

Traurig sah meine Mutter mir hinterher. Sie wusste, dass etwas nicht mit mir stimmte und ich ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Merkwürdigerweise schien meine Mutter irgendeine böse Vorahnung zu haben. Gerade das machte mir Angst. Sie konnte unmöglich wissen, was passiert war. Oder gar darüber Bescheid wissen, dass es manche Menschen gab, die das Feuer zu sich rufen konnten. Außerdem machte es mich misstrauisch. Auch, wenn ich bezweifelte, dass sie mit dem Jungen unter einer Decke steckte.

Entkräftet schmiss ich mich auf mein Bett und vergrub mein Gesicht in meinem Kissen. Über so etwas wollte ich eigentlich gar nicht mehr nachdenken. Wollte es vergessen.
Alles hatte sich für mich verändert. Scheinbar. Nichts sah ich mehr, wie vor den Geschehnissen im Wald. Es war nicht normal, dass ein Mensch Feuer 'heraufbeschwören' konnte. So etwas gab es gar nicht. Konnte es nicht geben. Warum konnte er so was? War er ein Einzelfall? Oder gab es mehrere? Schluckend durchfuhr mich ein Zittern. Wenn es wirklich mehrere gab, waren wir dem Untergang geweiht! Was würde diese Leute davon abhalten, gewöhnliche Menschen wie mich und meine Mitschüler zu versklaven? Oder die Weltherrschaft an sich zu reißen? Wir wären ihnen doch vollkommen unterlegen! Theoretisch konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Wer sollte sie aufhalten?

Noch ehe ich mir weiterhin Gedanken machen konnte, ertönte die Stimme meiner Mutter. Sie konnte es einfach nicht lassen. Vor nicht einmal einer Minute hatte ich ihr klar gemacht, dass ich mich an nichts mehr erinnern könnte und sie gebeten, mich erst einmal in Ruhe zu lassen. Konnte sie nicht akzeptieren, dass ich Zeit für mich brauchte?
Ihre Sorge verstand ich. Welches Elternteil wollte nicht wissen, warum die Tochter verletzt im Wald gefunden worden war? Trotzdem konnte ihre Fragerei warten.

»Mika? Im Briefkasten ist was für dich dabei!«, rief meine Mom. Irritiert runzelte ich meine Stirn. Ein Brief? Wer sollte mir einen Brief schicken? Ich bekam nie Briefe. Weder hatte ich irgendwelche Freunde, noch irgendwelche Verwandten von denen ich wusste, außer meiner Mutter. Außerdem wusste ich gar nichts über meine leiblichen Eltern. Hanne enthielt mir keine Informationen vor. Das wusste ich. Sie wusste selbst nicht, woher ich kam. Meine Eltern hatten sich anscheinend nicht zu mir bekennen wollen. Vielleicht hatten sie somit verhindern wollen, dass ich sie eines Tages aufsuchte. Mittlerweile war es mir aber egal. Damals nicht. Aber heute. Sie hatten mich abgegeben. Sie gehörten nicht zu meinem Leben. Hanne dagegen schon. Ihr verdankte ich so viel. Sie war meine Mutter.

Neugierig wandte ich mich aus dem Bett und ging zu meiner Mutter runter. Die Treppe knarzte bei jedem Schritt. Am liebsten wäre ich schneller gegangen, doch ich wollte mir meine Aufregung nicht anmerken lassen. Wenn es jetzt doch kein wichtiger Brief wäre, wäre es ziemlich peinlich.

»Hier.«, sagte Hanne und gab mir einen Briefumschlag. Auch sie wirkte neugierig. Ihr war bewusst, dass ich nie Post bekam. Sie erwartete, dass ich den Brief vor ihren Augen öffnete. Aber da hatte sie die Rechnung ohne mich gemacht. Erst einmal wollte ich mir in Ruhe ansehen, was ich da bekommen hatte. Danach könnte ich es ihr erzählen.

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