Kapitel 36.2 - Die Feinde unter uns

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Die Lage war angespannt. Anders konnte ich es nicht beschreiben, denn genau so war es. Angespannt. Desdemona vor allen schien in jedem, dem wir auf dem Weg zurück nach oben begegneten, einen Feind zu sehen. Doch lag sie dabei so falsch? Jeder konnte theoretisch einer von ihnen sein? Nun hieß es für mich, mir bloß keine Fehler mehr zu erlauben. Nicht einmal einen Winzigen.

"Hey." Desdemona stieß mir mit ihrem Ellenbogen unsanft in die Seite. "Was tun wir jetzt wegen Ariadne? Hast du einen Plan?"

Angespannt wandte ich mich ihr zu. "Sehe ich etwa so aus, als hätte ich einen Plan?!" Misstrauisch verfolgten meine Augen einen Jungen, der an uns vorbei lief. Ich wurde noch paranoid. Aber ich konnte mir keine Schwächen leisten. Nicht jetzt. Vor allem nicht jetzt.

Hastig liefen wir die Gänge entlang, beäugten jeden Schatten. Es war merkwürdig.

"Wie ist Don überhaupt hier herein gekommen?", murmelte Desdemona vor sich hin.

"Damon.", korrigierte ich automatisch.

"Jaja." Sie verdrehte ihre Augen. "Damon, Dean, Daniel, Don, alles das selbe."

Ich unterdrückte es, sie zu korrigieren. Ja, Damon hatte mir mal was bedeutet. Freundschaft. Ein kleines bisschen. Okay. Ein großes bisschen. Aber man konnte ja sehen, wie unterschiedlich wir waren.

"Wie ist der hier reingekommen?" Dieses mal wandte sie sich direkt an mich. "Mika, wie? Das ist so gut wie unmöglich! Niemand kommt unbemerkt hier rein, solange Lady Darkstone hier ist!"

Nachdenklich dachte ich nach. Es machte keinen Sinn. Wenn es stimmen sollte, was alle hier sagten, war Lady Darkstone eine ziemlich mächtige Elementary. Und sie selbst hatte mir ja auch gesagt, niemanden, der hier auf ihr Internat ging, würde je etwas passieren. Das würde sie nicht zulassen. Hinzu kam noch ihre Ausstrahlung ...

Ja. Wie kam Damon Firelight unbemerkt hier hinein? Und wenn er das konnte, konnten es dann nicht auch andere?

"Wir sollten es der Darkstone melden.", kam es auf einmal leise von Desdemona. Erstaunt zog ich eine Augenbraue hoch. "Wie bitte?"

"Du hast mich schon verstanden.", grummelte sie, "Ich gebe es nicht gerne zu, aber sie muss es wissen." Sie machte eine Pause. "Wir brauchen ihre Hilfe. Dringend. Ich will nicht als massakriertes Fischstäbchen enden."

Ich konnte sie nur ungläubig anstarren. Es hatte nie so auf mich gewirkt, als hätte Desdemona Respekt vor Lady Darkstone und als würde sie sie mögen. Niemals würde Desdemona ausgerechnet die Besitzerin des Internates um Hilfe bitten. "Massakriertes Fischstäbchen?"

Desdemona sah mich mit gerunzelter Stirn an. "Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?"

"Anscheinend."

Desdemona schüttelte nur den Kopf. "Ich meine das ernst, Mika. Wir brauchen Hilfe. Und leider muss ich zugeben, dass wir dazu die Darkstone brauchen." Sie senkte den Blick. Weshalb war sie eigentlich so abgeneigt Lady Darkstone gegenüber?

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. "Du hast recht. Wir schaffen das nicht allein."

"Na dann komm." Desdemona packte meine Hand und schleifte mich mit sich. Wir waren auf dem direkten Weg zur Direktorin, doch plötzlich bemerkte ich Liam, der halb im Schatten verborgen, an einer Säule beim Fenster lehnte. Als er uns bemerkte, trat er aus den Schatten. Desdemonas Erschrockenheit bemerkte ich nur daran, dass sie leicht zusammen zuckte.

"Liam.", sagte sie trocken.

"Desdemona." Er nickte ihr kurz zu, dann wandte er sich an mich. Natürlich. Wieder erschien dieses Misstrauen in seinen Augen. "Lune." Seine Stimme klang schon um einiges kälter. Ich musste vorsichtiger sein. Wer konnte schon wissen, wo er einem auflauern konnte?

"Liam." Meiner Stimme schwang ein gereizter Klang mit. Liam ignorierte ihn gekonnt und durchbohrte mich mit seinem eiskalten Blick.

Er erhob nur leicht die Hände zum Zeichen des Friedens. "Heute kommst du mir noch davon, Lune James. Glaub ja nicht, ich würde aufhören, herausfinden zu wollen, was du vor uns allen verbirgst! Aber im Moment nicht." Er schien mit sich zu ringen. In mir machte sich ein ungutes Gefühl breit. "Ich wollte dich warnen." Er schielte in den Gang hinter uns, dann sah er mich wieder an. "Ariadne plant etwas. Etwas Großes. Ich weiß nicht viel, nur, dass sie Rache will. Ob es Rache an dir oder wem anders ist, weiß ich nicht. Wirklich. Ich wollte es nur einmal gesagt haben." Mit diesen Worten verschwand er erneut in den Schatten.

Desdemona und ich warfen uns kurz Blicke zu und zuckten beide mit den Schulten. Doch das ungute Gefühl, die ungute Vorahnung, wollte nicht verschwinden. Es bahnte sich etwas an. Etwas Großes. Wie Liam schon sagte.

Wir gingen weiter. Schweigen.

Ich spürte MacKenzies Seitenblick auf mir. "Meinst du, es stimmt, was er sagt? Könnte er recht haben?"

"Ich weiß es nicht.", gestand ich ehrlich. "Es könnte etwas dran sein. Vielleicht hat es mit mir zu tun. Vielleicht aber auch nicht. Aber ... Es bahnt sich etwas an."

Sie runzelte ihre Stirn und sah mich fragend an. "Was?"

Ich schüttelte den Kopf. "Das weiß ich nicht."

Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Hatte sich Ariadne wieder erholt? Plante sie ihre Rache gegen mich? Wie wollte sie das anstellen? Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Sie wusste, was ich war. Sie konnte es verraten. Doch würden die Leute ihr glauben? Ich schluckte. Hoffentlich nicht.

Desdemona bog ab und wir liefen eine weitere Treppe hinauf. Dann standen wir auch schon vor der Tür des Büros der Direktorin. Desdemona blieb stehen, schluckte. Was war mit ihr?

"Alles gut bei dir?", fragte ich besorgt.

Desdemona antwortete nicht. Vorerst. Sie starrte einfach nur die schwere Tür vor uns an. Blut rauschte schnell in ihren Adern. Ihr Herz pumpte wild. Das war doch nicht normal!

Ich drehte sie zu mir um und packte sie an den Schultern, sah ihr fest in die Augen. "Was. Hast. Du? Desdemona, das ist nicht normal, so wie dein Herz rast!", sagte ich eindringlich.

Sie schluckte. "Ich weiß." Dann stockte sie. "Warte, du kannst meinen Herzschlag hören?!" Sie klang dezent entsetzt. Ich zuckte nur mit den Schultern.

"Also?" Ich stemmte sie Hände in die Hüften.

Desdemona starrte Löcher in die Luft. "Ich ... verstehe mich nur nicht allzu gut mit ihr."

"Das habe ich bereits bemerkt.", meinte ich trocken.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. "Du verstehst das nicht."

"Dann erkläre es mir."

Erneut schüttelte MacKenzie den Kopf. "Du würdest es nicht verstehen, denke ich."

Ich seufzte. "Und was, wenn doch?"

Sie zuckte mit den Schulter, seufzte erneut und meinte: "Egal, komm einfach mit. Aber bitte raste nicht aus, ja?"

Ich nickte. Was jetzt wohl kam? War es wirklich so schlimm, zwischen der Direktorin und der Schattenelementary? Doch wenn es so wäre, wäre Desdemona dann nicht auf einer anderen Schule? Oder Zuhause?

Ohne anzuklopfen stieß sie die Tür auf. Lady Darkstone saß an ihrem Schreibtisch, über einigen Papierkram gebeugt und erhob fragend ihren Kopf. Als sie Desdemona in ihrem Büro entdeckte, bemerkte ich die Überraschung, die sich in ihren Augen breit machte.

"Desdemona MacKenzie." Still und immer noch ziemlich erstaunt sah die Direktorin die Schülerin an. "Dich in meinem Büro zu sehen überrascht mich."

Desdemona sah überall hin, nur nicht zu Lady Darkstone und mir. Schließlich aber ließ sie es sein und sah zu Boden. "Tante Cassandra.", sagte Desdemona knapp.

Meine Augen weiteten sich. Tante Cassandra?!

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