Kapitel 16 - Die Beichte ✅

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Wäre Damon heute auch so, wenn seine Familie noch leben würde? Bestimmt. Schließlich hatte seine Familie schon vor ihm den Jägern angehört. Und irgendwie empfand ich Mitleid für ihn. Als Kind hatte er so viel verloren. Hatte durchgemacht, was kein Kind hätte durchmachen sollen. Diese Gedanken beschäftigten mich, während ich mich auf den Rückweg machte.

Ein weiteres Mal war ich froh, bei meiner Mutter aufgewachsen und noch nicht zu früh in die Welt der Elementare gestolpert zu sein. Wer weiß? Vielleicht wäre ich sonst genauso verbittert und hasserfüllt wie er. Wie schaffte Will es, bei solchen Geschehnissen, ausgeglichen zu bleiben? Auf mich wirkte er nicht von der Vergangenheit gezeichnet, obwohl er, dadurch, dass er bei seinen Eltern lebte, doch tagtäglich mit den Grausamkeiten der Jäger konfrontiert werden musste. Seine Familie lebte versteckt, bleib vermutlich unter sich und konnte wahrscheinlich nicht einfach so ins Kino gehen, wie meine Mutter und ich es so oft getan hatten.

Ich wollte Will und Claire nicht von mir stoßen, ohne dass sie den Grund dafür kannten. Schon gar nicht Will. Er hatte genug durchgemacht. Seine Großeltern waren ermordet worden, seine Eltern hatten vermutlich ein Trauma und nun stieß ich ihn auch noch von mir.
Ich musste es ihnen sagen. Und zwar am besten jetzt, ehe ich es immer weiter aufschob und mich ganz verrückt machte.

Bedrückt wandte mich mich zum Gebäude. Jetzt oder nie. Ich lief los. Als erstes würde ich es meinem Bruder erzählen. Wie würde Will wohl darauf reagieren, dass ich jemanden getötet hatte? Locker würde er es wohl nicht nehmen. Denn - verdammt noch mal - ich hatte jemanden getötet! Und sollte ich verschweigen, dass es mich mit Genugtuung erfüllt hatte? Nein. Ich würde nicht mehr vor der Wahrheit davonlaufen!
Wer jemanden tötete und auch noch Genugtuung dabei empfand, sollte auch damit klar kommen, dass man es getan hatte und es vor im Leben wichtigen Personen nicht geheim halten!

Entschlossen stieß ich die gewaltige Tür auf, die in das Gebäude führte. Mit zügigen Schritten schritt ich zum Westturm und erwischte Will, der gerade auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum schlief.

Sollte ich ihn wecken? Ja. Es war Zeit. Leise schlich ich auf Will zu, dann tippte ich ihm vorsichtig auf die Schulter. Natürlich wurde er davon nicht wach. Eigentlich hätte ich mir das denken können. Also nahm ich mir ein Herz und rüttelte ihn sanft. »Will.«, flüsterte ich.

Dieser grummelte verschlafen, doch dann öffnete er langsam die Augen. »Was willst du?«, brummte er schlecht gelaunt. Schließlich hielt er inne und starrte mich an. »Du geht mir nicht mehr aus dem Weg.«, stellte er verblüfft fest. Sofort setzte er sich auf.

»Also ...«, ich räusperte mich. Aber bevor ich wirklich zum Sprechen ansetzte, wurde ich von ihm unterbrochen.

»Das ist ja super!«, rief er und zog mich in eine wohlwollende Umarmung.

»Hey, Will. Stopp, stopp.«, murmelte ich, woraufhin er mich losließ und abwartend ansah.

»Ich wollte es nicht länger verschweigen und es dir erzählen.«, ich sprach leise und mied es, Will anzusehen. Wieso hatte ich mich noch einmal dazu entschieden, das hier durchzuziehen? Ich sollte es lassen. Es totschweigen. Es wäre besser so. Dennoch machte ich jetzt keinen Rückzieher.

»Was erzählen?«, fragte mein Bruder alarmiert und blickte mich eindringlich an. Ich konnte ihn nicht ansehen. Sonst würde ich sehr wahrscheinlich hemmungslos in Tränen ausbrechen.

»Weswegen ich dir aus dem Weg gegangen bin.«, sagte ich noch leiser und senkte meinen Kopf noch mehr. Will sagte nichts. Er sah mich bloß an.

»Will. Du wolltest wissen, was passiert ist. Weswegen ich im Krankensaal gelandet bin.«, begann ich. Will nickte. »Aber zuerst: Es war keine Lüge, dass Damon nichts damit zu tun hatte. Was genau passiert ist, erzähle ich dir jetzt.«

Wills erwartungsvoller und dennoch alarmierte Blick lag auf mir. Wie gerne wäre ich jetzt im Boden versunken und nie wieder aufgetaucht.

»Ich habe einen Brief an meine Mutter geschrieben. Also, an die Mutter, bei der ich aufgewachsen bin.«, fuhr ich fort. »Ich bin aus dem Gebäude raus, habe einen Briefkasten gesucht. Am Waldrand habe ich einen gefunden. Es war schon dunkel und dann war da dieser Jäger.«

»Damon Firelight!«, zischte Will hasserfüllt und ballte die Hände zu Fäusten.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht Damon. Ich habe dir doch gesagt, Damon hat nichts getan.«

Will grummelte etwas von »Ja, ist klar.«

Ich rollte mit den Augen. »Würdest du bitte damit aufhören?«, fragte ich genervt. Mir fiel das alles ohnehin schon schwer genug. Wieso musste er es nur noch schwerer machen?

»Womit denn?«, fragte mein Bruder mit Unschuldsmiene.

»Damon zu beschuldigen.«, sagte ich.

»Na gut.«, murmelte Will. »Wenn du mir alles erzählst.«

»Das hatte ich vor.«, meinte ich.

»Dann ist ja gut.«, sagte Will. Ich seufzte. Es würde schwerer werden, als ich bisher gedacht hatte.

»Also, ich habe den Brief eingeschmissen und dann tauchte hinter mir dieser Jäger auf.«, erzählte ich weiter. »Dieser Jäger, ein Feuerelementar, wollte mich töten und -« Weiter kam ich nicht, denn Will hatte mich schon unterbrochen.

»Wenn ich den in die Finger kriege!«, knurrte er zornig.

»Nicht nötig.«, murmelte ich und senkte den Blick. Jetzt kam der unschöne Teil.
Sofort lag Wills Blick auf mir.

»Wie, nicht nötig?«, rief er entgeistert aus. Ihm war der Unglaube anzusehen. Erneut wurde ich nervös. Nur noch Sekunden trennten mich vor meinem Untergang. Aber ich würde ihn konsequent in Kauf nehmen. Dabei war ich überhaupt nicht bereit, zu beichten. Würde ich wohl niemals sein. Dennoch tat ich es.

Ich schloss meine Augen und ein trauriges Lächeln schmückte meine Lippen. Ich sprach ruhig und mit fester Stimme. »Es ist nicht nötig, weil ich ihn getötet habe.«

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