Kapitel 72 - Das Haus der Klahans

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Nawin schluckte, während er das ihm eigentlich so bekannte Haus betrachtete. Auch ich ließ meinen Blick über das schöne, hölzerne Strandhaus schweifen. Es strahlte irgendwie etwas Trauriges aus, so verlassen, wie es hier stand. Ein paar der Fenster waren kaputt, die Tür allerdings war noch ganz. Und wie es aussah abgeschlossen.

"Hörst du etwas?", fragte Desdemona mich flüsternd. Aufmerksam begann ich zu horchen. Der Wind heulte durch die gesplitterten Fenster, ließ den von dem Verandadach herunter hängenden Blumenkasten schaukeln. Ich konzentrierte mich nun mehr auf das Innere des Gebäudes. Stirnrunzelnd versuchte ich irgendein Geräusch zu vernehmen.

"Und?", wollte Desdemona nervös wissen. "Irgendwelche Jäger? Lebt Saimon noch?" Für ihre letzte Frage kassierte sie einen bösen Blick von Nawin.
"Natürlich lebt er noch!", zischte er. Seine Nerven lagen vollkommen blank.

Ohne zu Antworten horchte ich weiterhin. Plötzlich ertönte der Klang von Schritten. Irgendwo hinten im Haus. Die Chance, dass das Saimon sein konnte, war relativ gering, da der im Keller gefangen gehalten wurde.

"Ich glaube, da ist ein Jäger.", sagte ich mit gesenkter Stimme. "In einem der hinteren Räume."
Desdemona fluchte leise, während Nawin nachdachte.
"Vermutlich in der Küche.", überlegte er.
"Toll.", meinte Desdemona. "Wir erwischen ausgerechnet den Tag, an dem die Jäger Saimon besuchen, um ihn nicht verhungern zu lassen." Sie schob entschlossen die Ärmel ihres Sweatshirts hoch. "Ich bin bereit!", sagte sie.

Ich nickte zustimmend. Abwartend sahen wir beide zu Nawin. Es lag an ihm ob wir jetzt das Haus betreten würden, oder nicht. Es lag an ihm, wann er bereit war. Nawins Blick lag starr auf dem Strandhaus. Begleitet von dem Rauschen der Wellen unterhalb der Klippe, straffte er seine Schultern und sah mit fester Entschlossenheit zur Eingangstür. "Los geht's!"

Mit zielstrebigen Schritten betrat Nawin die Veranda, zog beiläufig einen kleinen, silbernen Schlüssel aus seiner Hosentasche, den er anschließend in das Türschloss steckte.

Beeindruckt stieß Desdemona mir in die Seite. "Den Schlüssel hätte ich so schon längst verloren.", meinte sie und grinste. Mich dagegen wunderte es, dass Nawin den Haustürschlüssel wohl immer dabei hatte, obwohl er sicherlich nicht wieder vorgehabt hatte, zurück zukehren.

Mit einem leisen Klicken öffnete Nawin langsam die Tür. Vorsichtig spähte er in das Innere des Hauses. Als er uns dann zu sich winkte, signalisierte er, dass die Luft rein war. Desdemona und ich folgten Nawin leise in das Innere. Wir landeten direkt im Wohnbereich des Hauses. Eine dicke Staubschicht hatte sich über den Möbeln und dem Boden gebildet. Staub hing in der Luft. Schuhabdrücke im Staub wiesen darauf hin, dass hier öfters jemand vorbei schaute.

Nawin verzog sein Gesicht. "Es sieht so verkommen aus.", murmelte er, als er ein dickes, von Staubkörnchen besetztes Spinnennetz betrachtete.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass es hier mal richtig heimelig ausgesehen hatte. Wenn ich mir den ganzen Staub und die Spinnennetze wegdachte, war es hier sogar richtig schön. Abgesehen von dieser Leere und Leblosigkeit, die die Abwesenheit von Menschen erzeugte.

Das plötzliche Klirren von Geschirr ließ uns zusammenzucken. Angriffsbereit hatten sich schon Schatten um Desdemona gesammelt, die aufmerksam in die Richtung starrte, aus der das Geräusch gekommen war.

"Dort geht es zum Keller.", informierte Nawin uns und deutete auf eine unscheinbare Tür neben dem Kamin. Auf dem Kamin sprangen mir sofort zwei Bilderrahmen ins Auge. Das erste Foto zeigte eine vierköpfige Familie während eines Urlaubs an einem Strand. Palmen verliehen dem Foto etwas Tropisches.
Bei dem zweiten Bild war das Glas gesprungen. Es waren außerdem  zwei jüngere Kinder zu erkennen. Wahrscheinlich waren das Nawin und Saimon. Nawin sah auf dem Foto ungefähr aus wie vierzehn, während der andere Junge circa sieben Jahre alt war. Beide saßen in einem Strandkorb, während im Hintergrund das Strandhaus zu sehen war.

"Wie viele Räume hat euer Keller?", flüsterte Desdemona mit Blick auf die Tür.

"Drei.", antwortete Nawin leise. "Dort unten ist ein kleiner Flur. Wenn wir runter kommen, gibt es rechts und links jeweils eine Tür, die in zwei der drei Räume führt. Laufen wir den Flur weiter entlang, kommen wir zum dritten Raum."

Desdemona schien das Ganze im Kopf durchzugehen. "Und in welchem Raum wird dein Bruder vermutlich gefangen gehalten?" Ihre Augen scannten ihre Umgebung ab, als erwartete sie noch einen zweiten Jäger in der Nähe.

"Ich denke, er ist im hinteren Zimmer.", sagte Nawin. "Das war immer eine Art Spielzimmer und es gibt dort ein altes Klappbett." Desdemona nickte.

"Worauf warten wir?", fragte sie und wollte schon losgehen, doch Nawin hielt sie zurück.
"Lass mich vorgehen!", sagte er und sah sie eindringlich an. Kurz sah Desdemona Nawin an, bis sie schließlich einwilligte. "Gut. Dann geh mal vor."

Langsam ging Nawin auf die Kellertür zu und streckte seine Hand nach der Klinke aus. Doch noch ehe er sie herunter drücken konnte, bewegte sie sich von ganz allein nach unten. Erschrocken wich Nawin zurück. Sein Herz begann zu rasen.

Auch Desdemonas Herz klopfte nun schneller. Angespannt hielt sie ihre Schatten bereit, während ich einen Schritt zurück trat.

Die Tür öffnete sich schrecklich langsam und mit einem furchtbaren Quietschen. Eine nichtsahnende Jägerin mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck trat heraus. Dunkle, krause Strähnen umspielten ihr Gesicht. Obwohl sie so gelangweilt aussah, strahlte sie etwas Trauriges aus. Doch das hatte wohl kaum etwas mit Saimon zutun.

Irgendwoher kam sie mir bekannt vor.

Als sie uns bemerkte, reagierte sie blitzschnell. Sie zog so schnell ein Messer, dass wir es gar nicht kommen sahen. Ich sah nur ein metallisches Blitzen. Doch so schnell wie es kam, war es auch schon wieder verschwunden. Allerdings wurde schnell klar, wo das Messer war, denn Nawin, der der Frau am nächsten stand, schrie vor Schmerz auf. Der Griff des Messers steckte in seinem Oberarm. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt und Tränen funkelten in seinen Augen.

Triumphierend kickte die Jägerin Nawins Beine vom Boden, so dass er schmerzhaft auf dem Laminat aufkam. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten, doch die Frau war schon an ihm vorbei.
"Nicht so schnell!", zischte Desdemona und ihre Schatten schossen auf die Jägerin zu. Allerdings sah diese die Schatten noch rechtzeitig kommen und erhob sich zu unser aller Erstaunen in die Luft. Desdemona fluchte. Ihre Schatten waren nicht dazu in der Lage, in die Luft zu gelangen. Sie konnte der Jägerin nichts anhaben.

"Mach was!", rief Desdemona mir zu. "Verdammt, mach was!" Die Jägerin, die anscheinend auf Grund Desdemonas Rufes eine Gefahr in mir zu erkennen schien, hielt plötzlich ein weiteres Messer in ihrer Hand. Mit einer trainierten Bewegung warf sie es genau in meine Richtung.

"Ausweichen!", schrie Desdemona. "Ausweichen!" Sie wich ebenfalls aus und stolperte dabei, über den noch immer am Boden hockenden Nawin. Dieser stöhnte gequält auf und ging erneut zu Boden. Doch Desdemona bemerkte das gar nicht. Sie war viel zu aufgewühlt.

Wie in Zeitlupe sah ich das scharfe Messer auf mich zu fliegen. Es kam immer näher und ich hatte keine Zeit mehr um mich zur Seite zu werfen, da ich zu spät reagiert hatte.

Wie von selbst begannen meine Augen zu glühen und das Messer schien mitten im Flug als hätte jemand auf 'Stopp' gedrückt. Ein farbiges Flackern umhüllte es, während es reglos in der Luft lag. Gerade noch rechtzeitig.

Die Jägerin verzog ihr Gesicht und seufzte. "Eine weitere Ghost Elementary. Na ganz toll." Sie verschränkte genervt die Arme vor ihrer Brust und sah mich tadelnd an. Erst jetzt erkannte ich, weshalb sie mir bekannt vorgekommen war. Vor mir in der Luft schwebte Manou. Die Jägerin, deren Tochter in Damons Erinnerung getötet worden war.

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