Kapitel 57 - Zimmer 93

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Nachdenklich strich ich mit meinem Zeigefinger über den rauen Bezug der Sessellehne. und fuhr die Unebenheiten nach. Im Zimmer war es still. Desdemona saß mit gegenüber, ihre Arme vor ihrer Brust verschränkt, während sie abwesend vor sich hin starrte. Durch unser Zimmerfenster drang mattes Licht. Das letzte Sonnenlicht dieses Tages. Der Hof des Internates wurde in dunkel rotes Licht getaucht. Das Licht der untergehenden Sonne warf düstere Schatten in das Zimmer. Durch das geöffnete Fenster wehte eine einzelne kühle Windböe und ließ die Vorhänge geisterhaft tanzen. Einzelne Wortfetzen der im Hof stehenden Elementary drangen hier hinauf.

Ich wusste nicht, ob ich Desdemona fragen sollte. Immerhin hatte sie mir vorhin ziemlich viel erzählt. Ohne, dass ich groß nachfragen brauchte. Ich erinnerte mich an das, was Nawin im Speisesaal gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass er Desdemona den Grund genannt hätte, weswegen er sie im Stich gelassen hatte. Unsicher ergriff ich das Wort und riss das mir gegenübersitzende Mädchen aus ihren Gedankengängen. "Was hat Nawin dir gesagt? Welchen Grund hat er dir genannt, als er sich bei dir entschuldigt hat?" Ehrlich interessiert sah ich sie abwartend an. Hatte Nawin ihr versucht irgendeine Lüge aufzutischen, ihr die Wahrheit genannt oder nur eine weitere Version der Wahrheit gesagt? Desdemona hob ihren Kopf und dunkle Strähnen gaben ihr Gesicht frei. Ihre Lippen waren bloß noch eine schmale Linie, doch die Traurigkeit aus ihren Augen war wieder verschwunden. Stattdessen funkelte die Wut in ihnen.

Ihre Lippen kräuselten sich als sei sie angewidert. "Du willst wissen, was er gesagt hat?" Ihre Stimme klang verächtlich und ich sah die Schatten, die sich um ihren Sessel herum sammelten als würden sie nur darauf warten, auf Nawin losgelassen zu werden.  "Er hat mir gesagt, dass er mir den genauen Grund nicht sagen könne! Dass er es wegen meiner Sicherheit täte. Und dass ich ohne ihn besser dran sei!", Desdemona spuckte die Worte regelrecht aus. "Nawin sagte, ich solle Abstand von ihm halten und dass es nur zu meinem Besten sei!" Sie rümpfte verächtlich ihre Nase. "Und so etwas nennt er einen Grund! Meine Sicherheit! Pah!" Die Schatten um sie herum bebten bedrohlich. Unwillkürlich begann ich sie mit Hilfe meiner Fähigkeiten in Schacht zu halten, für den Fall, dass Desdemona plötzlich auf nicht durchdachte Ideen kommen sollte. Doch sie bemerkte das nicht einmal. Sie war bereits wieder in ihren eigenen Gedanken versunken. Anhand ihres Gesichtsausdruckes konnte ich auch genau sagen, wem sie ihre Gedanken widmete.

Wieso hatte Nawin ihr nicht einfach gesagt, weswegen er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte? Es hätte wohl alles leichter gemacht. Auch, da Desdemona nicht gerade die Person war, de versuchte die Handlungen eines anderen zu verstehen. Er sollte sie wegen ihrer Sicherheit im Stich gelassen haben? Aber wieso? Hatte Nawin mit irgendwem Schwierigkeiten gehabt? Oder hatten wieder einmal die Jäger ihre Finger im Spiel gehabt? Ich unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Diese Fragen würde ich nur Nawin selbst stellen können. Doch mir würde er keine Antwort darauf geben. Dazu vertraute er mir zu wenig.

Urplötzlich traf mich ein Gedanke wie ein Blitz und ich spannte mich in dem weichen Sessel an. Scheiße! Claire! Was, wenn ihr Geist noch immer durch diese Welt streifte? Sie war in der Lage, mich zu verraten. Sie wusste wer ich war und was ich getan hatte. Immerhin war sie selbst ein Opfer meiner zerstörerischen Kraft und meines Zorns. Als Liam uns im Speisesaal begegnet war, war sie nicht dabei gewesen. Doch das hatte nichts zu bedeuten.

"Was hast du denn auf einmal?", wollte Desdemona stirnrunzelnd wissen, der meine plötzliche Anspannung nicht entgangen war. Sie löste ihre Arme und legte sie beide auf jeweils eine der Armlehnen, während ihre Finger, in einem mir unbekannten Rhythmus, auf die Lehne trommelten.

Unruhig rutschte ich in meinem Sessel hin und her. "Claire. Weißt du noch? Der Geist! Was, wenn sie noch immer hier ist?", teilte ich ihr aufgewühlt meine Befürchtung mit. Desdemonas Gesichtszüge entglitten ihr. "Oh.", brachte sie heraus. "Scheiße." Doch schnell hatte sie sich wieder gefasst, sprang auf und ihre Hand schnellte vor. Ihre Finger umschlossen mein Handgelenk und sie zog mich ruckartig von meinem Sitzplatz hoch, sodass ich beinahe mein Gleichgewicht verloren hätte. "Was stehst du hier noch so rum? Jetzt komm! Du weißt doch bestimmt, was dieser blöde Geist anrichten kann!", rief Desdemona entschlossen. Ihre Laune hatte sich gewandelt. Sie wirkte wieder vollkommen Energie geladen. Bevor ich auch noch ein einziges Wort sagen konnte, hastete sie los und zog mich hinter sich her.

"Hey! Mach mal langsamer!", rief ich, doch Desdemona beachtete mich nicht einmal. Sie war vollkommen darauf fokussiert mit mir im Schlepptau durch die Gänge zu rennen und Liam zu finden. "Unsere Zimmertür steht noch offen!", protestierte ich, was Desdemona bloß mit einem desinteressierten Schnauben quittierte.

Nur noch vereinzelt hielten sich Schüler in den Gängen auf. Die meisten trafen sich mit ihren Freunden draußen oder in ihren Zimmern. Die, denen wir begegneten, warfen uns skeptische Blicke zu. Jedoch sagte keiner von ihnen etwas. Vielleicht lag das aber auch an Desdemonas Gesichtsausdruck.

"Soweit ich weiß liegt Liams Zimmer im Stockwerk über uns.", informierte mich Desdemona. Zweifelnd warf ich ihr einen Blick zu. "Und woher weißt du das?" Ich erhielt keine Antwort. Desdemona zog mich einfach weiter, sodass ich das Gefühl hatte, sie würde meinen Arm ausleiern.

Hier in den Gängen war es bereits recht kühl und keine einzig Lampe war eingeschaltet. Allein das dämmerige Licht von draußen tauchte die Gänge in langgezogene Schatten. Unsere Schritte hallten durch das alte Gemäuer. Es würde im Moment alles perfekt in irgendeinen dieser Vampirfilme passen. Es fehlten bloß noch die Spinnenweben und der Staub. Nun gut, auch ein paar mittelalterliche Möbel. Eigentlich sollten mich solche Vampirfilme kränken. Immerhin war ich selbst zum Teil einer. Doch noch konnte ich mich nicht genau mit dem vampirischen Drittel in mir identifizieren. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, könnte ich auch wieder etwas Blut vertragen. Mir drehte sich der Magen um. Nein, nicht wegen des Gedankens, Blut trinken zu müssen. Sondern wegen des Gedankens, wie ich an Blut kommen sollte. Ich würde nicht immer so einfach daran kommen, wie in den Kerkern, wo einfach so ein Fläschchen Blut im Kühlschrank gestanden hatte. Außerdem, weshalb gab es hier auf dem Internat Blutvorräte? Darüber sollte ich mir nachher mal Gedanken machen.

Wir erreichten das nächst höhere Stockwerk. Was, wenn Liam in seinem Zimmer war? Wusste Desdemona, welches Zimmer seines war? Ich wollte recht ungern an allen Türen klopfen in der Hoffnung, irgendwann seines zu erwischen. Auf meinen ratlosen Blick hin seufzte Desdemona. "Nawin hat mir einmal gesagt, welches Zimmer Liam gehört.", gab sie schließlich zu. "Damit ich wusste, welche Flure ich am besten mied, um ihm möglichst nicht zu begegnen." Verlegen grinste sie, was mich zum Lächeln brachte. Wie viel sich zwischen den beiden mittlerweile geändert hatte. Damals hatte sie ihn gemieden. Und jetzt vermisste sie seine Gegenwart. Auch wenn sie das niemals zugeben würde. Jetzt jedenfalls noch nicht.

Desdemona ließ mein Handgelenk los und ging zielstrebig auf eine der Türen in der Mitte des Ganges auf der linken Seite zu. "Liam O'Hare", fiel mir die sofort ins Auge. Genau wie bei uns gab es auch hier an der Tür Namensschilder. Da drunter stand noch ein weiterer, mir aber unbekannter, Name: "Theodor Bennett". Zusätzlich gab es hier noch eine Zimmernummer, die über den Namensschildern an der Tür befestigt war. 93. Desdemona beachtete die Namensschilder und die Zimmernummer kaum. "Theodor ist so etwas wie ein Elektrizität Elementary.", beantwortete sie eine unausgesprochene Frage. "Er ist in unserem Alter und wenn etwas mit der Elektronik hier nicht stimmt, holt Cassandra ihn immer, damit er ein wenig nachhilft." Ich nickte kurz. Interessant. Elektrizität als Element.

Ohne vorher zu klopfen stieß Desdemona die Tür auf, die auch krachend aufflog. Also war entweder Theodor oder Liam da. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte uns ein großer, schlaksiger Junge mit hellbraunem Haar, blauen Augen und buschigen Augenbrauen. Er lag auf dem Bett in der rechten Zimmerhälfte und in seinen Händen hielt er ein Buch. Als weder Desdemona, noch ich die Anstalten machten, irgendetwas zu sagen, ließ der Junge, der allem Anschein nach Theodor war, sein Buch sinken. "Und ihr seid?", wollte er ruhig wissen.

"Ist Liam hier?", ignorierte Desdemona patzig seine Frage und machte einen Schritt in das Zimmer. Theodor legte seufzend sein Buch zur Seite und stand auf. Er war wirklich groß. Viel größer als ich erwartet hatte. Er wirkte gar nicht so gefährlich, wie es sein Element erwarten ließ. Allerdings glaubte ich, dass er ziemlich gefährlich aussehen konnte, wenn er es ernst meinte. Deshalb hatte ich im Gegensatz zu Desdemona ein wenig Respekt vor ihm. Immerhin konnte er wahrscheinlich mit einer einzigen Berührung jemanden durch einen Stromschlag töten. Theodor Bennett sollte ich lieber nicht verärgern.

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