Kapitel 57.2 - Zimmer 93

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Die Einrichtung war eigentlich genau die selbe wie im Zimmer von Desdemona und mir. Bloß hatten die Möbel und andere Einrichtungsgegenstände andere Farben und an der Wand von Theodors Seite hingen einige Poster von seiner Lieblingsrockband. Generell wirkte Theodors Zimmerhälfte sehr heimelig. Im Gegensatz zu Liams. Während auf Theodors Hälfte viele seiner persönlichen Dinge, wie Bücher, Poster, Spielekonsolen und Bilder zu sehen waren, war Liams Hälfte ziemlich unpersönlich. Es wirkte so, als sei Liams Hälfte nicht einmal bewohnt. Es existierten keine Gegenstände, die zeigten, dass hier noch ein weiterer Junge lebte. Es gab keine Fotos, keine Bücher, nichts.

Klar, meine eigene Zimmerhälfte war auch noch recht unpersönlich gestaltet. Aber ich war auch noch nicht allzu lange hier und persönliche Gegenstände hatte ich nicht mitgenommen, da ich keine bei mir gehabt hatte, als ich hier her kam.

Und selbst Desdemonas Hälfte sah bewohnter aus, als die von Liam. Auf ihrem Nachttisch lag ihr Handy, Schulbücher und normale Bücher, ein Glas Wasser und ich meinte mich zu erinnern, dass sie in einer ihrer Schubladen ein Bild ihrer Eltern versteckte. Außerdem war Desdemonas Bettdecke nicht so ordentlich gefaltet wie die von Liam. Das erweckte jedoch nur stärker den Eindruck, dass auf seiner Zimmerhälfte niemand lebte.

"Ihr habt meine Frage noch immer nicht beantwortet.", sagte Theodor geduldig und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. Abwartend sah er uns an.

Da Desdemona keine Anstalten machte ihm zu antworten, tat ich es. "Das ist Desdemona und ich bin Lune.", sagte ich. In Theodors Augen blitzte so etwas wie Erkenntnis auf. Er lehnte sich an die Wand und betrachtete uns eingehend. "Die berüchtigte Desdemona.", sagte er und seine Mundwinkel hoben sich. "Jetzt erinnere ich mich an dich. Du bist das Mädchen, das von allen nur MacKenzie genannt werden will. Du bist diese Außenseiterin, über die Liam sich immer aufregt." Ich stockte. Theodor kannte Desdemona nur unter dem Namen MacKenzie. Bedeutete das etwa, dass Liam sie nur in ihrer Gegenwart mit ihrem Vornamen ansprach? Vor Theodor nannte er sie anscheinend bei ihrem Nachnamen. Meine Augen wanderten zu Desdemona, doch sie reagierte nicht. Ihre Miene verzog sich nicht.

"Seit dem er mit dir verschwunden ist, redet er nicht mehr über dich.", sagte Theodor und nun wandte er sich mir zu. "Du bist die kleine Neue. Die, die Liam vor allen anderen gedemütigt hat. Seit du da bist, regt er sich über dich auf." Theodor lachte leise. "Das tut er immer noch." Ich sollte Liam gedemütigt haben? Wann denn? Fieberhaft dachte ich nach. Und da fiel es mir ein. Als Liam Desdemona unter seinen Schatten vergraben wollte, habe ich ihn davon abgehalten. Hatte er das etwa als Demütigung gesehen? Er hatte seine Fähigkeiten vor allen anderen demonstrieren wollen, doch ich hatte ihn als schwach dar stehen lassen, als ich ihn daran gehindert hatte Desdemona zu verletzen. Vielleicht war er deswegen so versessen darauf gewesen mein Geheimnis herausfinden zu wollen. Um mich bloßzustellen. Und ich hatte ihm diese Macht letzten Endes überlassen. Mittlerweile bereute ich es, ihm die Wahrheit gesagt zu haben. Na ja. Die halbe Wahrheit. Immerhin hatte er nicht bis zum Schluss zugehört. Aber vielleicht hatte unser kleiner gemeinsamer Ausflug ja etwas verändert. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder. Alles was sich während des Ausfluges zwischen und geändert hatte war durch die Wahrheit über mich wieder zunichte gemacht worden.

Theodor hob sein Buch von seinem Bett auf, legte ein grünes Lesezeichen zwischen die Seiten und stellte es auf das, vermutlich von ihm selbst angeschraubte, Regal über seinem Bett. Mehrere bekannte Buchtitel sprangen mir ins Auge. "Liam ist noch nicht da.", griff Theodor das von Desdemona angesprochene Thema auf. "Er müsste aber bald zurück kommen. Als er beim Abendessen verschwunden ist, ist er wahrscheinlich in die Bibliothek gegangen." Theodor deutete auf die beiden Sessel. "Setzt euch doch." Er hob zwei Controller vom Boden auf. "Wollt ihr irgendetwas spielen, während ihr wartet?" Desdemona und ich schüttelten unsere Köpfe und Theodor legte die Controller zu seinem Fernseher und seiner Konsole.

"Was macht Liam in der Bibliothek?", fragte Desdemona skeptisch. "Kann der überhaupt lesen?" Ich dagegen fragte mich, weshalb ich nicht wusste, dass es hier eine Bibliothek gab. Theodor zuckte mit seinen Schultern und ließ sich wieder auf sein Bett sinken. "Soweit ich weiß kann Liam tatsächlich lesen.", sagte er schmunzelnd. "Und er geht in die Bibliothek, wenn er allein sein will. Dort wird er nicht gestört." Sein Blick glitt zu der Digitaluhr, die die auf seinem Nachttisch stand. "Normalerweise bleibt er abends nicht allzu lange dort." Jedenfalls schien Theodor sich keine Sorgen um seinen Mitbewohner zu machen, denn er nahm sich einen Der Controller, schaltete seinen Fernseher und seine Konsole ein und legte eine CD ein. Das Spiel startete und Theodor starrte begannt auf den Bildschirm, während seine Finger über den Knöpfen schwebten. Desdemona und ich schauten schweigend zu wie Theodor seine Figur über den Bildschirm laufen ließ. Ich glaubte irgendwie nicht, dass andere Schüler ihre eigene Spielkonsole in ihren Zimmern hatten. Deshalb konnte ich mir gut vorstellen, wie manche ab und zu hier her kamen. Liam gefiel das sicherlich nicht sonderlich. Ich wandte meinen Blick von dem Bildschirm ab und ließ ihn durch das Zimmer schweifen. Die Wände waren in einem hellen Blauton gehalten und die Vorhänge waren weiß. Dieses Zimmer war im Gegensatz zu unserem recht hell. Auf der Fensterbank bemerkte ich ein paar kleine Blumentöpfe, von denen die rechte Hälfte alle fröhlich blühten, während die linke Hälfe bereits ein wenig vertrocknet aussah. Theodor musste Liam ein paar Blumen angedreht haben, um die er sich allerdings nicht wirklich zu kümmern schien.

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür und ein schlecht gelaunter Liam trat hinein. Er schloss hinter sich die Tür und erstarrte, als er Desdemona und mich bemerkte. "Was macht ihr denn hier?!", entfuhr es ihm.

"Ah, Liam.", grüßte Theodor Liam ohne seine Augen von seinem Fernseher zu lassen. "Du hast Besuch."

"Das sehe ich.", sagte Liam mürrisch, ehe er sich Desdemona mit leicht zusammengekniffenen Augen zu wandte. "Was wollt ihr hier?" Liam ignorierte mich höchst konzentriert. Eine wirklich tolle Vorgehensweise. So würde er dem Gespräch mit mir natürlich auf jeden Fall entgehen. Und ich musste wirklich einmal mit ihm sprechen, fiel mir gerade auf. Das was passiert war musste einmal geklärt werden.

"Claire.", sagte Desdemona kurz angebunden und ihre Augen flackerten kurz in Theodors Richtung. Liam bemerkte das und folgte ihrem Blick, ehe er seinen Kopf schüttelte. Er wusste, dass Theodor nichts von Claire, dem Geist, wissen sollte. Ich entspannte mich ein wenig. Es war ein gutes Zeichen. Vielleicht würde er mich doch nicht verraten. "Sie ist genau in dem Augenblick verschwunden, in dem ihr auch verschwunden seid.", informierte Liam uns trocken und nun sah er mich das erste mal, seit er den Raum betreten hatte, wirklich an. "Und wir sollten glaube ich noch einmal reden. Ich will die ganze Geschichte hören." Ich atmete einmal tief ein und aus. Dann nickte ich. Immerhin müsste ich ihn jetzt nicht mehr zu einem Gespräch zwingen. "Vielleicht ändert es ja etwas, wenn ich alles höre.", meinte Liam und zuckte mit seinen Schultern als sei es ihm eigentlich egal. Mir konnte er jedoch nichts vor machen. Ich wusste bereits, dass es ihm nicht egal war. Es schien mir als wollte er mich nun doch nicht als dieses Monster sehen, für das er mich hielt. Die Frage war nur, ob er seine Meinung über mich ändern würde, wenn er auch den Rest erfahren würde.

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