Kapitel 9 - Elementtraining ✅

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Der nächste Tag kam leider deutlich schneller, als ich es mir erhofft hatte. Einige weitere Stunden der Gnadenfrist hätte ich gerne noch gehabt. Aber das war mir nicht vergönnt.

Gedankenverloren saß ich auf meinem Bett. Gleich würde die Schule wieder beginnen. Und ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, meinen Mitschülern entgegenzutreten. Einerseits wegen Wills Offenbarung und andererseits wegen des Vorfalls beim Kampftraining. Ich war einfach noch nicht bereit. Am liebsten hätte ich mich wieder unter meiner Bettdecke verkrochen und gehofft, dass man mich einfach vergisst. Irgendwann wäre bestimmt Gras über die Sache gewachsen und dann könnte ich wieder hervorkommen und einen Neustart wagen. Der dann vielleicht besser gelaufen wäre, als mein tatsächlicher Start.

Dadurch kam mir der Angriff im Wald auf einmal so weit weg vor. Als wäre das zu einer ganz anderen Zeit geschehen. Vor Ewigkeiten. Nervös zwang ich mich zur Ruhe. Es würde mir kein bisschen weiterhelfen, wenn ich jetzt meiner Panik nachgab.

Ich wollte Damon nicht begegnen. Aber auch sonst niemandem. Nicht nachdem, was ich getan hatte. Und gerade deshalb musste Damon doch glauben, dass es nun von höchster Priorität war, mich zu ermorden.

Merkwürdigerweise war es nicht nur Damon, vor dem ich mich fürchtete. Auch die ganzen anderen Schüler. Ich würde nicht damit fertig werden, wenn sie sich feindselig mir gegenüber verhalten würden.

Ich wusste noch nicht einmal, ob ich schon dazu bereit war, Will wiederzusehen. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir waren einander vollkommen fremd. Und doch waren wir Geschwister. Sollten wir jetzt irgendwie anders miteinander umgehen?
Er hatte mich schon so lange gesucht. Was, wenn er enttäuscht war? Wenn er sich mich ganz anders vorgestellt hatte? Vielleicht wünschte er sich auch mit der Zeit, dass er und ich uns niemals getroffen hätten. Oder dass er ein Einzelkind wäre.

Es würde mir das Herz brechen, wenn er so denken würde, denn bis jetzt mochte ich Will. Es war seltsam, doch er hatte etwas Vertrautes an sich. Tatsächlich konnte ich mich auch schon mit dem Gedanken anfreunden, ihn meinen Bruder zu nennen. Dass ich das so schnell akzeptiert hatte, wunderte mich.


»Heute fangen wir mit deinem Training an.«, berichtete mir Will, als ich ihn im Gemeinschaftsraum antraf. Er klang überraschend enthusiastisch.
»Okay.«, sagte ich. Wie so ein Training wohl aussah? Bei den Luftelementaren hatte ich eine solche Unterrichtseinheit bereits gesehen, doch bei unserem Element sah das sicher ein wenig anders aus. Obwohl ich mich freute und total gespannt war, fürchtete ich mich ein klein wenig. Immer wieder spukte mir die Katastrophe vom Kampftraining im Kopf umher.

Will sah so aus, als würde er nachdenken. Sein Blick schweifte zu der Uhr, die an der Wand hing. Er hatte doch nicht etwa Zeitdruck? Genau wie er sah ich zur Uhr und musste feststellen, dass wir noch genügend Zeit hatten. Es war noch früh.
»Obwohl ...«, sagte er, dessen Blick sich nicht von der Uhr löste. »Wir haben noch eine halbe Stunde, bis wir zum Frühstück müssen.« Ja, und meine Augenringe dankten es ihm.

»Und das heißt?«, fragte ich, obwohl ich schon ahnte, worauf er hinaus wollte.
»Wir haben noch Zeit, um jetzt schon mit deinem Training zu beginnen.«, sagte er. Ich nickte vorsichtig. Etwas Respekt hatte ich davor schon.

»Okay und was soll ich machen?«, wollte ich wissen. Mit einem Kopfnicken deutete Will auf ein Buch, das auf dem Sofa lag: „Geist - die Geschichte rund um das Element und was es bewirken kann". Das war ein ziemlich langer Titel.

»Bleib wo du bist und lass es zu dir kommen.«, befahl Will, ging zur Seite und sah mich abwartend an. Ich konnte nur fragend eine Augenbraue hoch ziehen,während ich dann doch zu dem Buch blickte. Es war relativ dick und hatte einen glänzend schwarzen Umschlag, auf dem silberne Lettern prangten.

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