Kapitel 78.4 - Der Sturm

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Schwermütig zog ich mich aus Saimons Geist zurück. Hier konnte ich nichts tun. Langsam zog ich meine Hände vom Kopf des Jungen zurück. Ich wagte es nicht, zu Nawin zu sehen. Jedoch spürte ich seinen Blick. Er war erwartungsvoll, aber mit einer düsteren Vorahnung. Schweigend schüttelte ich meinen Kopf. Es tat mir leid. Alles.

Das war der Moment, indem Nawin neben mir zusammenbrach. Kraftlos saß er am Boden, kämpfte mit den Tränen. Dass das wohl der schlechteste Moment überhaupt dafür war, brauchte ich ihm wohl gar nicht erst zu sagen. Mithilfe meiner Fähigkeiten hielt ich die Jäger, wie auch Saimon auf Abstand. Dieser hatte Nawin als sein nächstes Ziel anvisiert. Seine ausgestreckten und leicht gekrümmten Finger verrieten mir, dass er jetzt wieder drauf und dran war, seinem älteren Bruder die Augen auszukratzen.

"Nawin!", zischte ich, als es immer mehr Jäger wurden. "Reiß dich bitte wieder zusammen!" Ich wusste, dass es ziemlich unbarmherzig von mir war, Nawin jetzt so anzufahren. Doch die Umstände entschuldigten mein Verhalten.

"Das ist nicht Saimon.", murmelte Nawin. "Nicht mehr." Mit wackeligen Beinen erhob er sich. Die Leere in seinen Augen sprach Bände. Mir entging jedoch nicht, wie die Energie durch seinen gesamten Körper strömte und sich an einem Punkt zu sammeln begann. Die Leere wich Zorn. Nawin ballte seine Hände zu Fäusten. "Ihr habt mir meinen Bruder genommen!", zischte er. Seine Stimme bebte gefährlich. Nawin verlor die Kontrolle. Schlagartig verfärbten sich seine braunen Augen schwarz. Dann war es um ihn geschehen. Anders als ich war er nicht in der Lage, all seine negativen, zerstörerischen Gefühle zu kontrollieren, die diesen Zustand so unberechenbar machten.

Nawins Atem war ruhig. Gleichmäßig. Der Hauptteil seiner Gefühle war verbannt. An irgendeinem Ort, den Nawin nicht erreichen konnte. Zumindest nicht allein. Nicht jetzt. Gewissenlos machte Nawin eine kurze Handbewegung, die die Jäger in seiner Umgebung schreiend zu Boden lassen ließ. Kurz darauf, nach dem sie sich ein wenig vor Schmerzen gewandt hatten, versetzte Nawin ihnen den Todesstoß. Er schickte noch ein wenig seiner Magie in ihre Körper. Ein letztes Zucken. Tod. Keine einzige Regung.

Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Nawins Lippen. Ich trat einen Schritt zurück. Jetzt durfte ich bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich wollte nicht gegen Nawin kämpfen. Jetzt musste ich bloß aufpassen, dass er seine Zerstörung gegen die richtigen wandte.

Zu meinem Entsetzen wandte sich Nawin gegen seinen Bruder. "Du bist nicht mehr Saimon.", zischte Nawin mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. O nein! Das würde er nicht tun! Würde er die Kontrolle wiedererlangen, würde sein Gewissen Nawin zerstören! Doch noch ehe ich auch nur einen Finger rühren konnte, begann Saimon schrill zu schreien. Der zwölfjährige Junge hatte keine Chance. Er war sofort tot. Leblos klappte der kleine Körper in sich zusammen.

Fassungslos starrte ich auf die Kinderleiche. Nein. Nein! Das durfte nicht sein! Weshalb hatte ich nichts unternommen? Ich hätte es doch gekonnt! Nawin würde sich das niemals verzeihen können! Mein Körper zitterte. Saimon war doch noch ein Kind! Jetzt verfluchte ich es, in diesem Zustand weiterhin einen klaren Kopf und ein Gewissen zu haben. Weshalb konnte es bei mir jetzt nicht wie bei Nawin sein? Ich würde all diese Jäger bezahlen lassen. Ohne nur einen Funken Schuldgefühle zu haben.

Gleichgültig wandte Nawin sich von der Leiche seines kleinen Bruders ab. Er hatte seine nächsten Opfer bereits gefunden. Anders, als Manou es uns vorausgesagt hatte, griffen die Obscura nicht wahllos irgendjemanden an. Zwar stimmte es schon, dass sie keine Kontrolle über sich hatten. Doch durchaus unterschieden sie noch zwischen Verbündeten und Feinden. Ja, es war ein Gemetzel. Ja, es war teilweise blutig. Aber sie griffen nur die Jäger an. Zumindest noch. Was, wenn es keine Jäger mehr gab, die sie töten konnten?

Ich sah mich um. Wer hatte bisher alles die Kontrolle verloren? Mein Blick huschte suchend durch die Massen. Die erste Obscura, die ich entdeckte, war Desdemona. Diese war wortwörtlich explodiert. Ihre Augen waren schwärzer als ihre Schatten. Ihre Miene glich einer wütenden Furie. Desdemona wirkte wie eine Todesgöttin. Außerdem schien sie im Zentrum der Jäger zu stehen. Von Schatten umringt, ließ sie keinen Jäger auch nur in ihre Nähe kommen. Ein Schatten nach dem nächsten schoss auf die Jäger zu, erstickte ihre schmerzvollen Schreie im Keim oder entfachte ganze Orchester davon. Sie ließ sich von nichts ablenken. Ab und zu schossen die Schatten auch aus ihrem Körper heraus, wie es bei mir der Nebel getan hätte.

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