Kapitel 8.2 - Von Jägern, Hass und Brüdern ✅

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Es war merkwürdig ruhig im Saal. Keiner redete. Es war, als hätte jemand plötzlich den Ton ausgestellt. In den Mienen der anderen konnte ich alle möglichen Emotionen von Verwirrung bis hin zu Unglauben erkennen.

Selbst der Blick von Damon Firelight hatten sich verändert. In seinen Augen lag nicht mehr diese schreckliche Kälte, die ich zuvor immer dort gefunden hatte und die bisher wie ein Teil von ihm schien. Tatsächlich wirkte er einerseits geschockt, aber andererseits auch irgendwie resigniert.

Im hinteren Bereich des Saals hörte man ein Glas geräuschvoll aus der Hand eines Schülers fallen. Klirrend zerschellte es am Boden. Doch niemand reagierte darauf. Entweder niemand hatte es registriert, oder es war schlicht und einfach im Moment egal. Weshalb Wills Enthüllung meine Mitschüler so interessierte, sodass sie sich nicht einfach wieder ihrem Essen zuwandten, konnte ich bei bestem Willen nicht erklären.
»Komm.«, sagte Will, nahm mich an der Hand und führte mich aus der Halle, fort von den ganzen Blicken. Fort von dem Jäger, bei dem ich einfach nicht einschätzen konnte, ob er jetzt vielleicht doch bereute, nicht nachgesehen zu haben, ob ich auch wirklich gestorben war.

Doch das war gerade nicht wichtig. In meinem Kopf tummelten sich jetzt tausende von Gedanken. Keiner davon zu Ende gedacht. Es waren nur Fetzen, die ich nicht greifen konnte. In mir herrschte das reinste Chaos. Nur eines wusste ich: Wills Worte brachten mich vollkommen durcheinander. Immer wieder hallten sie in meinen Ohren wider. Als hätte jemand sie auf Endlosschleife gestellt.

»Pass auf, eine Stufe.«, murmelte Will. Doch ich war viel zu sehr mit meinen verwirrten Gedanken beschäftigt, die einem Kaleidoskop ähnelten. Das hieß natürlich, dass ich über die Stufe, wegen der mich Will schon gewarnt hatte, stolperte. Noch ehe ich fallen konnte, gab Will mir Halt, indem er mich auffing, als ich gerade drohte zu kippen.
Automatisch krallte ich mich an ihn. Allerdings nahm ich das alles eher aus einer Distanz wahr, die mich daran zweifeln ließ, dass ich momentan wirklich vollkommen Herrin meiner selbst war.

Die Korridore waren wie ausgestorben. Vollkommen menschenleer lag das imposante Schlossinnere vor uns. Alle befanden sich beim Frühstück, das wohl gerade eher zum Diskussionssaal mutiert war. Ich konnte mir jetzt sehr gut vorstellen, was dort jetzt vor sich ging. Aber bestimmt hätte Wills Enthüllung, die seines Elements und seines Verwandtschaftsverhältnisses zu mir, niemanden interessiert, hätte er eines der gängigen Elemente beherrschen können. Vielleicht wäre ein kurzes oberflächlich überraschtes Gemurmel wert gewesen. Aber garantiert nicht einer solchen Aufruhr, wie sie jetzt herrschte.
Wie viele von meinen Mitschülern hatten überhaupt schon etwas von dem fünften Element gehört? Konnten sie sich überhaupt noch etwas darunter vorstellen?
Wieso hatte er es mir nicht früher gesagt? Mittlerweile ahnte ich, dass er mich seit unserem ersten Zusammenstoßen am Frühstücksbuffet im Auge behalten hatte. Warum war er nicht früher zu mir gekommen und hatte Klartext geredet?
Er hätte es mir wenigstens sagen können, als wir alleine waren! Da hätte ich das nämlich alles erst einmal verdauen können, ehe es gleich die ganze Schule erfahren würde.

Es war erstaunlich, was solch ein kleiner Satz ausmachen konnte. Was er verändern konnte. Man hatte mich in diese Welt gestoßen. Das war schon die erste wichtige Offenbarung gewesen, die man mir gegeben hatte. Doch nun folgte schon gleich die nächste? Im Moment war mir das alles ein bisschen zu viel.

Vor vielen Jahren hatte ich mich gefragt, wer meine richtige Familie war. Ob ich vielleicht noch Geschwister hatte, die meine Eltern – weshalb auch immer –behalten hatten. Im Gegensatz zu mir. Oder war Will vielleicht genau wie ich ohne Eltern aufgewachsen?

Auf einmal geschah alles so schnell. Erst der Angriff im Wald, die Elementare, mein Element und jetzt auch noch das. Man gönnte mir auch keine Pause.
Es war, als wäre ich erneut aus meiner Wolke gefallen, einer Wolke, die meine Scheinwelt war. Meine kleine Scheinwelt. Nie hatte ich wirklich gedacht, einen Bruder oder überhaupt Geschwister zu haben. Eigentlich hatte ich gedacht, dass meine leiblichen Eltern mich entweder nicht gewollt hatten, also keine Kinder wollten, nicht mit einem Kind klar kamen oder gestorben sind, weshalb ich zu der Frau kam, die ich heute meine Mutter nannte.

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