Will
Sie war fort. Einfach fort. Ohne irgendein Wort, ohne einen Zettel zu hinterlassen. Einfach so hinaus und verschwunden im Nebel. Ohne irgendein Anzeichen. Wir hatten uns nicht darauf vorbereiten können, nichts hat sie getan. Weshalb war sie gegangen? Was brachte ihr das? Wir hatten sie doch gerade erst wieder. Wir hätten ihr helfen können. Deshalb hatte sie doch mit Dad trainiert.
Besonders Mum hatte ihr plötzliches Verschwinden schwer getroffen. Seither saß sie nur noch deprimiert auf dem Sofa und machte sich Vorwürfe, da sie glaubte, etwas falsch gemacht zu haben. Sie meinte, sie hätte Mika niemals abgeben sollen, hätte mehr Zeit mit ihr verbringen sollen und in der Zeit, die sie da war, hätte sie mehr mit ihr unternehmen und sie mehr kennenlernen und verstehen lernen sollen.
Doch Mum hätte Mika nicht aufhalten können. Es war von Anfang an hatte sie geplant, zu verschwinden.
Grandma war schweigsamer und Grandpa rührte seine Zeitung nicht mehr an. Er verbrachte seine Zeit mit Grandma, obwohl sie sehr schweigsam war. Aber vielleicht irrte ich mich auch und er genoss ihr Schweigen einfach. Bei ihm und Grandma konnte man nie wissen.
Dad war ebenfalls sehr schweigsam, doch ansonsten ging er allen Tätigkeiten nach, die er immer tat.
Weshalb war sie gegangen? Glaubte sie vielleicht, dass es besser wäre? Dass sie uns zu beschützen hatte? Doch vor was? Etwa vor ihr? Ja, ich gab es zu. Sie war mächtig. Vermutlich wusste sie nicht einmal, wie mächtig. Doch glaubte sie deshalb, dass wir nicht damit klarkämen?
Ich war ihr großer Bruder. Es war meine Pflicht, sie zu beschützen. Und nicht nur meine Pflicht. Ich würde es so oder so tun. Sie war meine kleine Schwester. Meine kleine Schwester, die ich nicht rechtzeitig genug gefunden hatte, weshalb sie Damon zum Opfer fiel und diese Narbe bekam.
Ich war nicht da gewesen, als sie von den Jägern angegriffen wurde.
Ich hatte sie nicht weggezogen, als sie Claire getötet hatte. Und jetzt hatte sie Schuldgefühle.
Ich war einfach nur enttäuscht. Bedeuteten wir ihr denn nicht genug, sodass sie blieb? Oder dachte sie, es sei das Beste für uns? Nein, nein war es nicht! Es war nicht das Beste!
Es war gefährlich da draußen. Die Jäger waren scheinbar überall, hatten überall ihre Ohren. Man konnte niemanden trauen. Und sie hatten es besonders auf Mika abgesehen. Weshalb auch immer. Gut, sie war mächtig und somit eine Gefahr für die Jäger, aber bitte, Mika war doch gerade mal erst ... Moment mal. Sie war letztens siebzehn geworden. Noch nicht einen einzigen Geburtstag hatten wir mit ihr zusammen gefeiert. Der nächste würde sein, wenn sie achtzehn werden würde. Volljährig. Erschreckend. Wie schnell die Zeit doch verging.
Der Tag kam, an dem ich wieder in die Schule ging. Irgendwann hatte sich meine Enttäuschung in Wut verwandelt. Wie genau das passiert ist, konnte ich nicht sagen. Es war einfach so gewesen. Schon als ich hörte, dass sie verschwunden sei, hatte ich diese leise Wut gespürt. Sie hatte sich auf leisen Sohlen angeschlichen und mich überwältigt, hatte mich überfallen, als ich nicht damit gerechnet hatte. Aus all den negativen Gedanken war sie entstanden und vielleicht sogar auch aus ein paar der Guten.
Es hatte damit begonnen, dass ich schnell gereizt war und mich gegenüber den anderen verschloss, die mich einfach nur noch nervten, wie sie über ihre Geschwister und Familien redeten, wie sie eine glückliche Familie waren ohne jegliche Probleme und Komplikationen, die das Ganze noch einmal schwerer machten. Das war doch nicht fair. Aber was war bitte je schon einmal fair gewesen? Genau. Nichts.
Kälte. Das beschrieb mein Innerstes im Moment ziemlich genau. Ich fühlte mich kalt. Wir hatten schon so viel Pech in der Familie gehabt. Die Eltern meines Vaters starben, ich hatte meinen Onkel vor meinen Augen sterben sehen, während meine Tante flehte, die Jäger mögen ihn doch am Leben lassen. Beide starben einen qualvollen Tod. Die Jäger hatten kein Erbarmen.
Freunde von mir wurden getötet, weil sie sich damals vor mich gestellt hatte, da ich damals zu schwach war um es selbst zu tun.
Unsere Familie hatte schon so viel Leid erlitten. Und dann passierte einmal etwas Gutes, wie das Auftauchen von meiner für verloren geglaubten Schwester und dann verschwand sie wieder. War unauffindbar.
Sagt mir, wann war das Leben jemals leicht? Wann war es fair?
Die Jäger waren wie ein dunkler Schatten unserer Familie. Sie waren immer da, lauerten auf einen Zeitpunkt, an dem sie zuschlagen konnte. Kein Wunder, dass es irgendwann zu viel wurde und man kalt wurde. Man wurde schließlich nicht ohne Grund kalt.
Die Schüler in der Schule bemerkten die Veränderung. Sie gingen leicht auf Abstand, wurden vorsichtiger in meiner Gegenwart. Anfangs war es noch beinahe unbemerkbar, bis ich austickte. Irgendwann.
Ich meine, dass es während des Kampfunterrichts bei dem Coatch war. Die Fire, die gerne mal provozierten, hatten es übertrieben. Oder hatte ich übertrieben? Wie es auch gewesen war, es war mir egal. Es war mir gleichgültig. Ich bereute es nicht. So hatte ich wenigstens meine Ruhe.
Draußen hatte es leicht geregnet. Am Himmel hingen schwere, dunkle Wolken. Es würde einen Sturm geben. Ich konnte die elektrische Ladung in den Wolken spüren, als ich in sie hinein fühlte.
Einer der Fire, hatte sich über die Jäger lustig gemacht. Gesagt, sie seien zu dumm und unfähig, ein kleines, sechzehnjähriges Mädchen zu töten, weshalb sie die Chance hatte, Claire und die Jäger zu töten. Anschließend lachte er und prahlte, wie er es getan hätte. Genau in diesem Moment überkam mich die unbändige Wut, die sich seit ihres Verschwindens in mir angestaut hatte. Hinzu kamen noch die vielen Verluste, die meine Familie je durch die Jäger erlitten hatte. Ohne ein schlechtes Gewissen auf das Folgende zu haben und dem Wunsch, ihn zu verletzen, war ich auf ihn losgegangen, hatte ihn angebrüllt.
Bis ich auf einmal die gewaltige Kraft der Gewitterwolken in mir spürte. Vollkommen in meiner Wut und in meinem Hass gefangen, machte sich mein Geist die elektrische Kraft der Gewitterwolken zu eigen. Es war ein berauschendes Gefühl. So mächtig. Noch nie hatte ich mich so mächtig und todbringend gefühlt.
Der Fire hatte meine Wut komplett abbekommen. Doch auch im Nachhinein tat es mir nicht leid. Es würde mir niemals leidtun. Er hatte es verdient.
Plötzlich schoss ein heiß glühender Blitz aus den Wolken auf die Erde, zerstörte den Boden unter unseren Füßen, schlug nur wenige Millimeter neben dem Fire ein. Doch diese gewaltige Kraft genügte, um ihn in Lebensgefahr zu bringen. Und alle wussten, dass ich es gewesen war.
Seither machten sie mir schlagartig Platz, wenn sie mich auch nur aus der Entfernung sahen. Meine Wut und meinen Hass ließ ich an ihnen aus. Ich wusste, sie hatten es nicht verdient, doch es war mir gleichgültig. Würde ich es eines Tages bereuen? Ich wusste es nicht. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Oder eines Tages, wenn dieser Tag seine Bedeutung längst verloren hätte.
Ein trüber Tag in der Schule. Kalt lief ich durch die Gänge, warf jedem meine finsteren Blicke zu, der es auch nur wagte, in meine Richtung zu sehen. Da ich sowieso schon genervt war, war es kein guter Tag für die, die es wagten, sich mit mir anzulegen, was sowieso niemand tat. Schon früher hatte es niemand gewagt, sich mit mir anzulegen. Sie hatten schon immer Respekt vor mir. Doch dieses mal war es Furcht. Sie fürchteten mich.
Einen Jungen, vermutlich neu auf der Schule, stand mitten im Gang, schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass die Anderen Platz gemacht hatten. Doch es interessierte mich nicht. Nicht im geringsten.
Mit einer kurzen unschönen Begegnung mit meiner Schulter, war der Junge auch schon weg. Schwächling. Das war ich selbst einst gewesen. Keine Zeit, an die ich gerne zurück dachte. Doch jetzt war es Vergangenheit. Es war schon lange nicht mehr so. Diese Zeiten waren vorbei.
"Will.", vernahm ich plötzlich eine leise Stimme. Schlagartig blieb ich stehen. Nein, das konnte nicht sein! Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich um, die merkwürdigen Blicke der Anderen waren mir egal. Wo war sie? War sie hier? Verzweifelt sah ich mich um, doch sie war nicht da. Mein Gesicht wurde wieder zu dieser eiskalten Maske. Ich hatte mir ihre Stimme bloß eingebildet.
Doch plötzlich hörte ich Mikas Stimme erneut. Dieses mal klarer. "Es tut mir leid, Will." Ein leises Flüstern. Und doch so klar verständlich. Sie musste hier sein! Ruckartig war ich wieder stehen geblieben, mein Blick überflog hoffnungsvoll die Schüler. Doch wieder fand ich sie nicht. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Ich hörte sie doch!
Ich erinnerte mich, dass es an dem Tag ihres Verschwindens ähnlich gewesen war. Ihre Stimme war anwesend gewesen. Zwar nur kurz, aber immerhin. War es vielleicht eine von Mikas Fähigkeiten? Konnte sie uns sehen und uns ihre Stimme hören lassen, ohne dass sie wirklich da war?
"Es tut mir leid.", erklang es ein letztes mal und ich bemerkte, wie die Stimme verklang und mit ihr auch Mikas Anwesenheit.