Die ganze Zeit in der wir im Auto saßen, sprach Desdemona nicht mehr mit mir. Und auch Finley konzentrierte sich darauf, mich nicht mehr anzusehen. Innerlich schmerzte es, dass sie mich ignorierten. Desdemona trug ihre Abscheu ganz offensichtlich, während Finley nicht zu wissen schien, was er nun von mir halten sollte. Immer wieder ertappte er sich selbst dabei, dass er mich über den Spiegel ab und zu beobachtete. Vielleicht redete er sich ein, dass er das nur tat, um sicherzugehen, dass ich nicht gleich auf alle losging.
Nawin war der einzige, der sich aus der ganzen Sache heraushielt. Oder er hatte einfach genug damit zu tun, die beiden bewusstlosen zu bewachen und aufzupassen, dass sie nicht wieder zu sich kamen.
Da ich anscheinend lange genug bewusstlos gewesen war, wurde es bereits schon wieder dunkel. Wir würden also noch rechtzeitig zurück zum Internat kommen. Und dort würden wir wohl noch einmal richtig ausschlafen. Hoffentlich.
Finley bog in die versteckte Einfahrt zum Internat ein. Das Auto ruckelte ein wenig, doch dann fuhr er zum Tor und der Boden wurde ebener. Ein paar Meter vor dem Tor bremste er den Wagen ab und hielt an. „So.", sagte er. „Da wären wir. Aber glaubt nicht, dass ich das noch einmal mache." Dabei warf er sowohl Desdemona, als auch mir einen kurzen Blick zu. Desdemona ignorierte das und riss die Beifahrertür auf. Sie half Nawin dabei, die beiden Gefesselten aus dem Wagen zu bekommen. Kurz darauf signalisierte das Knallen der Kofferraumtür, dass beide fertig waren. Da sie nicht auf mich zu warten schienen, sackte ich ein wenig in dem Sitz zusammen. Finley beobachtete mich durch den Spiegel.
„Ich möchte, dass du jetzt gehst.", sagte er ruhig. Betroffen und mit gesenktem Kopf nickte ich. Schweigend schnallte ich mich ab. Anschließend öffnete ich langsam die Tür. Bevor ich allerdings aussteigen konnte, meldete Finley sich noch einmal zu Wort. „Ruf mich nicht an.", sagte er.
„Ich bin kein Monster.", brachte ich die Worte leise und unglaublich zittrig heraus, ehe ich das Auto verließ und die Tür hinter mir zu knallte. Sofort ertönte das Röhren des Motors und Finley beschleunigte. Trüb sah ich dem davon brausendem Auto hinter her, das in der aufkommenden Dunkelheit zwischen den knorrigen Bäumen verschwand.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Tränen bildeten sich in meinen Augen, doch ich blinzelte sie weg. Claire. Damon. Desdemona. Finley. Sie alle hatte ich vergrault. Vielleicht sogar Hanne.
Ich wandte mich ab und sah zu Desdemona und Nawin, die schon beinahe am Schloss angekommen waren. Wieso sollte ich überhaupt mit ihnen kommen? Genauso gut konnte ich sofort in den Kerker gehen. Sie wollten meine Gesellschaft sowieso nicht. Ab jetzt würde ich nur noch das Mittel zum Zweck sein. Die Waffe im Kampf gegen die Jäger. Oder ich würde eingesperrt werden und den Kampf über im Kerker ausharren müssen. Das klang alles wieder so deprimierend. Eigentlich sollte es mich gar nicht mehr so herunterziehen, wenn so etwas passierte.
Mit gesenktem Kopf und Schuldgefühlen machte ich mich auf den Weg in den Kerker. Da es bereits abends war und ich keine Ahnung hatte, wie spät es war, vermutete ich, dass entweder alle beim Abendessen waren, oder in ihren Zimmern.
Ohne irgendwem zu begegnen, gelang ich in den Kerker und wandelte schon auf der Treppe hinunter meine Gestalt in meine eigene zurück. Der dunkle, karge Gang passte zu meiner Stimmung.
Die Tür von Damons Zelle erreichte ich relativ schnell. Vor seiner Tür blieb ich stehen. Zweifel kamen in mir auf. Er würde doch überhaupt nicht mit mir sprechen wollen. Und weshalb sollte er mir Antworten geben? Damon war ein Jäger. Ein Jäger mit den falschen Vorstellungen. Kannte er überhaupt die richtige Geschichte? Die würde er kennen müssen, wenn er mir bei meinem Problem helfen sollte. Und dieses mal würde ich ihn nicht zwingen. Dazu war ich sowieso zu ausgelaugt.
Jedoch nahm ich meinen Mut zusammen und klopfte. Da ich keine Antwort erwartete, öffnete ich einfach die Tür und trat ein. Damon lag mit dem Rücken zu mir in der hintersten Ecke auf dem Boden und schien zu schlafen. Unsicher schloss ich die Tür hinter mir. Sollte ich ihn jetzt wecken? Aber gehen konnte ich auch nicht. Ich wollte nicht zurück zu den anderen. Die würden gerade in diesem Moment über alles aufgeklärt werden. Über wirklich alles. Vermutlich würde sich mein Bruder gleich auf die Suche nach mir machen und mit mir reden wollen. Doch dafür war ich noch nicht bereit.
„Was willst du?", ertönte plötzlich die gleichgültige Stimme von Damon. Er schlief also doch nicht. Als ich ihm nicht sofort antwortete, setzte er sich auf und sah zu mir. „Du siehst echt beschissen aus."
„Danke.", murmelte ich. „So fühle ich mich auch." Seufzend ließ ich mich auf dem Boden nieder und lehnte meinen Rücken an die Wand. Mit hochgezogener Augenbraue musterte Damons mich skeptisch. Er schien erst einmal einschätzen zu wollen, was er von dieser Situation halten sollte.
„Wieso bist du hier?", fragte er argwöhnisch.
„Zum Teil, weil ich nicht zu den anderen will.", gab ich ehrlich zu. Nun lehnte sich Damon genau gegenüber von mir gegen die Wand und betrachtete mich eingehend.
„Du hast etwas angestellt.", stellte Damon sofort fest. Er seufzte. „Und ich soll jetzt als die Person fungieren, mit der du darüber reden willst." Er schüttelte seinen Kopf und rieb sich seinen Nacken. „Hast du keinen anderen, mit dem du darüber reden kannst?"
Erneut spürte ich, wie mir Tränen in die Augen traten. „Ich hab alles kaputt gemacht, Damon.", sagte ich leise. „Und gleich wird es jeder von denen wissen." Ich traute mich gar nicht, ihn anzusehen. Was tat ich hier bloß? Nach dem letzten mal, sollte ich die letzte sein, mit der Damon die Zeit verbringen wollte.
„Und dann kommt noch all der andere Kram dazu.", redete ich einfach weiter. Meine Stimme war immer noch unglaublich leise. Allerdings war ich mir sicher, dass Damon mich hören konnte. „Jetzt hat sich auch noch heraus gestellt, dass ich nicht einmal eine Elementary bin." Okay. Gut. So hatte ich nicht beabsichtigt das zu sagen Vor allem nicht schon Am Anfang. Es hatte mich dann wohl doch mehr beschäftigt, als ich hatte zugeben wollen.
Nun wurde Damon neugierig. Stirnrunzelnd sah er mich an. „Was soll das denn heißen?", wollte er wissen. „Klar, Ghosts sind anders, aber sie sind immer noch Elementary."
Ich schüttelte meinen Kopf und strich mir über meinen linken Arm. „Nein.", sagte ich. „Eben nicht." Ich schluckte. Es wurde immer schwerer, die Tränen zurück zu halten. Wieso war das so verdammt schwer?
„Klär mich auf.", forderte Damon. „Ansonsten verstehe ich dich nicht." Er rutschte ein wenig umher, auf der Suche, nach einer gemütlicheren Position.
„Manou hat uns da so etwas erzählt.", begann ich und stockte. „Am besten zeige ich es dir. Wenn du es erlaubst." Unsicher hob ich meinen Blick und traf den von Damon. Ich zuckte kurz zusammen.
Damon tat so als hätte er das nicht bemerkt und zuckte mit seinen Schultern. „Wenn es so schneller geht.", meinte er. Ich zwang mich nun seinem Blick standzuhalten. Nahm ihn gefangen. Damon bemerkte das. Innerlich sträubte er sich, doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken und blieb gelassen. Stück für Stück begann ich nun die Erinnerungen an das Gespräch mit Manou zu ihm herüber zu schieben. Damons Blick lag in weiter Ferne. Aufmerksam beobachtete er das Geschehen, das sich vor seinen Augen abspielte. Als sich seine Miene verdüsterte, sah er gerade den Teil, indem Manou uns genaustens über die Ghost Elementary aufklärte. Und über mich. Danach stoppte der Erinnerungsfluss und Damons starrte mich an.
„Du ...", er stockte und schwieg.
„Ich bin keine Elementary.", sprach ich das aus, was er vermutlich gerade sagen wollte. „Weißt du, das was das Einzige, an das ich mich die ganze Zeit über geklammert habe. Weil ich dachte, dass wenigstens das die Wahrheit sei. Aber das war sie nicht." Ich biss fest meine Zähne aufeinander. „Und jetzt bin ich nicht bloß eine Obscura, sondern auch noch eine Art Hybrid." Ich seufzte. „Aber deswegen bin ich nicht hier. Darüber wollte ich eigentlich nicht wirklich sprechen."
Damon schüttelte seinen Kopf. „Danach sieht es für mich aber nicht aus.", meinte er. „Das scheint dir ganz schön auf die Seele zu drücken." Die Glühlampe flackerte.
„Ich bin wegen etwas anderem gekommen.", sagte ich leise. „Das hat zwar auch ein wenig damit zu tun, aber hauptsächlich geht es um etwas anderes. Außerdem bin ich nicht hier, um mich bei dir auszuheulen. Immerhin bist du -"
„- ein Jäger.", beendete Damon ungerührt meinen Satz. „Das stimmt. Aber komm endlich zum Punkt."
„Weißt du noch, was geschehen ist, als ich den Jäger getötet habe?", fragte ich.
Damon lachte rau auf. „Du musst schon präziser werden. „Welchen Jäger meinst du?"
„Den Ersten.", antwortete ich.
Damon nickte. „Ja, daran erinnere ich mich. Natürlich."
Forschend musterte ich mein Gegenüber. „Erinnerst du dich auch noch daran, was währenddessen mit mir geschehen ist?" Abwartend studierte ich Damon und wartete auf seine Reaktion.
Langsam nickte Damon. „Laut Manou muss das dann dieser – wie soll ich es nennen? - Monstermoment gewesen sein.", sagte er. Ich zuckte unter seinen Worten zusammen. Monstermoment. Er nannte es 'Monstermoment'. Natürlich nannte er es so. Was hatte ich auch anderes erwartet? Eigentlich hatte sich hiermit meine Frage schon erklärt. Der Teil mit dem 'Monster' in dem Wort hatte alles gesagt. Schweigend erhob ich mich und ging schon zur Tür, als Damon aufsprang.
„Hey! Warum gehst du?", rief er. „Wir waren doch noch gar nicht fertig!"
„Doch.", sagte ich tonlos. „Ich bin fertig. Eigentlich hast du mir die Frage, die ich hatte, gerade eben beantwortet." Ich wollte die Tür offnen, doch Damon schnellte vor und hinderte mich daran. Mit seiner Hand hielt er mich zurück und zog mich zu sich. Ernst sah er mir in die Augen. „Was war deine Frage?", wollte er wissen.
Seufzend sah ich ihn an. Wenn ich es ihm jetzt sagte, ließ er mich vielleicht schneller gehen. „Ich wollte von dir wissen, ob ich eine Gefahr für meine Mitmenschen bin. Ob ich ein Monster bin.", sagte ich leise. Damon fluchte mit gesenkter Stimme. Daraufhin zog er mich mit sich auf den Boden. Nun saßen wir nebeneinander.
„Erzähl mir die Situation, wegen der du das wissen willst.", forderte Damon. „Ich denke, es ist nicht wegen dem, was Manou gesagt hat." Damit lag er richtig. Also begann ich ihm die Situation zu schildern. „Wir haben Saimon gefunden. Aber er ist in einem furchtbaren Zustand. Als dann auch noch Manou rein kam und Nawin beinahe getötet hätte, bin ich ausgetickt.", erzählte ich. „Ich wollte Manou töten, doch Desdemona hielt mich davon ab. Deswegen war ich dann plötzlich wütend auf sie und ... Ja. Ich denke, du kannst dir vorstellen, was passiert ist. Sie hat vor Schmerzen geschrien und Nawin hat ein Messer nach mir geworfen." Unwillkürlich rieb ich die Stelle, durch die das Messer geschnitten hatte. Damon entging nicht, dass die Stelle sich nur wenige Millimeter neben meinem Herzen befand. Wurde er gerade etwa blass?
„Auf jeden Fall ist Desdemona seit dem ziemlich ... abweisend." Ich seufzte und schluckte das Schluchzen hinunter, das beinahe erklungen wäre. Meine aufkommenden Tränen blinzelte ich weg.
„Und deswegen fragst du dich nun, ob du zu gefährlich für andere bist.", schlussfolgerte Damon. Ich nickte stumm. Allerdings wunderte es mich, dass er nicht auch noch die Sache mit dem Monster ebenfalls wiederholte.
Plötzlich legte Damon seinen Arm um meine Schultern. Ob er es unwillkürlich tat oder nicht, ich, wie auch er zuckten kurz zusammen. Doch Damon zog seinen Arm nicht zurück. „Mika.", sagte er. „Ob du nun eine Obscura bist, oder nicht. Natürlich bist du gefährlich." Mein Herz rutschte mir in die Hose. Allerdings war Damon noch gar nicht fertig. „Aber das sind die anderen auch. Nur hatten sie das Glück, noch nicht die Kontrolle zu verlieren. Und eben deshalb haben sie keine Ahnung, wovon sie da reden. Hätten sie schon die Kontrolle verloren, würden sie nicht so von dir sprechen, weil sie dich dann verstehen würden. Sie wüssten, dass es nicht deine Absicht war. Die Hybrid-Sache hat damit nichts zu tun. Sie macht dich bloß stärker." Tatsächlich war ich von Damons Worten überrascht. Positiv überrascht. Eigentlich hatte ich etwas vollkommen Anderes erwartet. Schließlich hatte er mich schon einmal 'Monster' genannt.
„Danke.", flüsterte ich.
Auf Damons Lippen erschien ein Grinsen. Nicht dieses herablassende Grinsen, ein Freundliches. „Desdemona wird sich schon wieder einkriegen.", versicherte er mir. „Spätestens, wenn die Jäger da sind und sie selbst die Kontrolle verliert."
„Na ganz toll.", meinte ich und Damon lachte.
Nachdenklich sah ich Damon an. Warum sollte er eigentlich hier bleiben? Er, wie auch die anderen Jäger, die hier gefangen waren? Immerhin war es mittlerweile ziemlich egal geworden, ob wir die Jäger besiegten, oder nicht. So oder so hatten wir schon verloren. Wir konnten gar nicht gewinnen. Ich stand auf. Damon erhob sich ebenfalls.
„Na dann.", sagte er. „Auf Wiedersehen, schätze ich." Er schenkte mir ein schiefes Grinsen. Mein Besuch war ihm also eine willkommene Ablenkung.
„Ja.", sagte ich. „Auf Wiedersehen." Ich öffnete die Tür und trat einen Schritt zur Seite, um Damon Platz zu machen. Ungläubig sah er mich an.
„Mika, was soll das?", fragte er.
Ich zuckte mit meinen Schultern. „Du kannst es dir doch denken.", sagte ich. „Du kannst gehen. Es macht keinen Unterschied, ob du hier weiter in deiner Zelle hockst, oder draußen zurück zu deinen Jäger gehst. Verloren haben wir doch sowieso schon. Entweder vernichtet ihr Jäger uns, oder wir tun es von ganz allein."