Kapitel 79 - Die Leere danach und die endgültige Aufklärung

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Entschuldigend sah meine Mutter zu mir hoch. Bedauern lag in ihrem Blick. "Nein, Mika. Als Obscura bist du, im Gegensatz zu jedem in unserer Familie, überraschend schwach. Damals, als du ein Baby warst, hatte ich geglaubt, dass du genau wie Will nur eine Obscura bist. Und dann war deine Magie auch noch so unglaublich schwach. Ich hatte Angst, du würdest in unserer Welt niemals zurecht finden und dass du keine Chance haben würdest, würden die Jäger unsere Familie erneut angreifen." Sie machte eine kurze Pause. Eine Träne rollte ihr aus dem Augenwinkel. "Es tut mir so leid.", hauchte sie. "Ich dachte, es wäre das Beste, wenn wir dich weggeben würden. Auf diese Weise warst du vor den Jägern sicher und hattest auch noch die Chance, ein normales Leben zu leben. - Doch das ist nicht alles." Rhea presste ihre Lippen verbittert fest aufeinander.

Ich verstand das nicht. Sie wollte mir hier gerade klar machen, dass ich als Obscura schwach war. Aber ich hatte doch das komplette Gegenteil erlebt!
"Ich hätte es einfach dabei belassen sollen.", schluchzte meine Mutter nun. "Du hättest ein normales Leben haben können. Ohne die Jäger, ohne all dieses Leid. Doch ich schob, kurz bevor ich dich vor Hannes Tür legte, einen Teil meiner Kraft in dich. Ich dachte, dass sie dir, falls die Jäger dich doch eines Tages finden würden, helfen würde. Doch meine Kraft in dir blieb nicht wie erwartet weggesperrt. Das hatte ich mir damals auch beinahe schon gedacht."
Ich schüttelte wild meinen Kopf. "Das alles ist doch nicht schlimm.", brachte ich zitternd hervor. "Dann hast du halt deine Kraft in mich geschoben. Du wolltest mich schützen."

Doch zu meiner Überraschung schüttelte Rhea ihren Kopf. "Schon damals lief alles auf den heutigen Tag hinaus. Jeder wusste, dass sich Jäger und Gejagte eines Tages im Kampf gegenüberstehen würden. Aus zwei Gründen habe ich dir einen Teil meiner Kraft gegeben: einerseits hatte ich dich schützen wollen, da du selber nur so wenig Magie besaßest. Aber andererseits hatte ich schon beinahe erwartet, dass meine Magie in dir nicht ewig eingesperrt bleibt. Und somit machte ich dich zur Zielscheibe." Rhea verschluckte sich beinahe an ihren Worten und machte eine kurze Pause.
Verwirrt sah ich meine sterbende Mutter an. "Wie ... Wie meinst du das? Wie hast du mich zur Zielscheibe gemacht?"

Rhea lächelte leicht. "Die Idee dahinter war recht einfach. Sollte meine Magie eines Tages in dir erwachen, würdest du ziemlich mächtig werden. Das wiederum würde die Aufmerksamkeit der Jäger auf dich lenken. Auf diese Weise würden sie sich allein auf dich konzentrieren und ich würde nicht weiter beachtet werden. Niemand würde meine wahre Macht kennen. Und wenn dann der Tag der Entscheidung kommen würde, würde ich sie alle überraschen und ohne große Hindernisse zerstören können. - So wie ich es heute getan habe."

Sie verzog erneut vor Schmerz ihr Gesicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das einzige, was ich tun konnte, war meine Mutter anzustarren. Sie hatte mich den Jägern überlassen. Um selbst nicht in ihr Visier zu geraten. "Ich wollte dir niemals Leid zufügen, Mika. Ich habe an unsere Zukunft gedacht. Und ich sah eine Chance, die Jäger im Kampf zu überraschen. Deswegen habe ich auch nie etwas gesagt. Ich habe all das geheim gehalten. Nicht einmal meine Eltern wissen davon. Nicht einmal dein Vater." Rhea löste ihren Blick von mir und ließ ihn suchend über das Schlachtfeld gleiten. An einem bestimmten Punkt blieb ihr Blick hängen und sie tat sich schwer, ihren Blick wieder von dort zu lösen, um zu mir zu sehen.

"Ich erfuhr selbst erst mit dreizehn Jahren, dass ich nicht bloß eine überaus mächtige Obscura war. Meine Hexenseite konnte ich mit meiner Obscuraseite verbinden, sodass ich noch mächtiger wurde." Sie verstummte kurz. Der Druck ihrer Hand verringerte sich. "Niemals habe ich einen Gedanken daran verschwendet, was ich dir mit all dem antun könnte. Ich machte dich zum Einzelgänger, zum Außenseiter. Wegen mir jagen dich nicht bloß die Jäger. Und wegen mir ist deine beste Freundin dir aus dem Weg gegangen. Und all das nur als Beispiel." Rheas Blick flackerte kurz. Sie schluckte einmal. Ihr Blick wanderte zum wolkenlosen Himmel. "Ich war egoistisch. Sehr sogar. Und das alles tut mir so schrecklich leid." Ihre Stimme war kaum mehr als ein schwacher Windhauch.

Schweigend saß ich neben der sterbenden Frau im Gras. Ich hätte ihr vielleicht sagen sollen, dass ich ihr verzeihen würde. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Und ich wollte nicht lügen. Nicht jetzt. Nicht nachdem sie mir so etwas offenbart hatte. Ich war überaus enttäuscht und wütend. Sie hatte mir mein Leben schwer gemacht. Und das beinahe schon von Anfang an. Klar, sie bereute es. Doch das half mir nicht. Es machte nichts wieder gut. Die trockenen Tränen klebten auf meinem Gesicht. Diese Frau hatte mich zur Zielscheibe der Jäger und der gesamten Elementarygemeinschaft gemacht. Sie war es, weswegen mir all diese Erwartungen und Hoffnungen in mich gesetzt worden waren. Sie war es, die mir all diese Last aufgebunden hatte, deren Druck mich beinahe erdrückt hatte.

"Mika?", hauchte Rhea, während ihre Augen im Himmel lagen. "Kannst du mir verzeihen?"
Als keine Antwort von mir kam, schluckte sie hart. "Mika?", wiederholte sie. Ihre Stimme klang verzweifelt. Sie schluchzte und eine Träne nach der nächsten rollte ihr über das vor Schmerzen verzogene Gesicht. "Mika, bitte. Ich wollte doch nur dein Bestes!", schluchzte sie, doch ich schüttelte zu ihrem Entsetzen meinen Kopf.
"Nein.", erwiderte ich. "Wolltest du nicht. Du hast mich zum Werkzeug deiner Rache gemacht. Mein ganzes Leben lang war ich ein Außenseiter. Und danach? War nichts, was mir als die Wahrheit verkauft wurde, die Wahrheit. Immer und immer wieder. Kopfüber wurde ich in die Welt der Elementary geworfen, von der ich noch nicht einmal gewusst hatte. Ich wurde mit Leuten konfrontiert, die mich umbringen wollten und ich wusste noch nicht einmal, weshalb. Du hast aus mir eine Zielscheibe gemacht." Als ich bemerkte, dass Rhea etwas einwerfen wollte, sprach ich weiter. "Und jetzt komm mir nicht wieder mit der Ausrede, dass du mich beschützen wolltest. Das mag vielleicht sogar stimmen, aber zum Großteil hast du es getan, weil du deine Rache an den Jägern wolltest. Du hast es nicht zu meinem Schutz getan." Meine Worte waren härter und kälter als beabsichtigt. Doch das war mir egal. Ich war wütend. Einfach nur wütend. Und ich war nicht gewillt, dieser Frau so schnell zu verzeihen, was sie in meinem Leben verpfuscht hatte.

Rheas Gesicht war ganz rot vom Weinen und in ihren Augen stand das Wasser. Ein letzter Schluchzer brachte ihren Körper zum Beben. Ihr Griff um meine Hand erschlaffte. Ihre Augen starrten starr und unbeweglich auf einen unbestimmten Punkt im Himmel. Sie rührte sich nicht mehr.

Meine Mutter war tot.

ObscuraWhere stories live. Discover now