Kapitel 75 - Verlangen nach Antworten

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„Was?", keifte Desdemona. „Was willst du dann tun?" Sie funkelte Finley zornig an. „Gegen uns bist du machtlos! Also sei lieber still und halt dich lieber von deiner kleinen heimlichen Flamme fern." Sie warf mir kurz einen abwertenden Seitenblick zu. „Denn die hat keine Probleme damit, Leuten, die ihr nahestehen, wehzutun."

„WAS?!", riefen Finley und ich gleichzeitig. Fassungslos starrten wir Desdemona an.

„Wovon redest du da?!", fragte ich fassungslos. Was sollte das? Wofür wollte Desdemona mir jetzt etwas rein würgen? Außerdem. Würde sie so weiter machen, würde Finley uns alle aus dem Wagen werfen und rasend schnell weg fahren. Der dachte bestimmt, wir seien irgendwelche Verbrecher!

„Tu doch jetzt nicht so.", meinte Desdemona herablassend. „Du weißt doch genau, wovon ich rede." Sie drehte sich zu mir um und betrachtete mich kühl. „Erst diese Claire, und jetzt ich. Ich habe wirklich gedacht, das hättest du hinter dir." War Desdemona etwa enttäuscht? Aber weswegen? Angestrengt versuchte ich nachzudenken. Was war eigentlich passiert? Ich war sicher nicht ohne Grund ohnmächtig gewesen. Ich wusste noch, dass wir Saimon gefunden hatten und er Nawin angegriffen hatte. Danach war Manou hereingekommen.

Finley sah durch den Spiegel zu mir. „Das würdest du doch nicht tun. Oder?" Er sah zuversichtlich aus, dass Desdemona nur Lügen erzähle. Und er würde mir glauben, würde ich ihm sagen, dass ich niemandem wehtun würde, der mir nahe stand.

Bevor ich ihm antwortete, wollte ich erst einmal herausfinden, wovon Desdemona eigentlich sprach. Sie würde so etwas nicht ohne Grund sagen. So war sie einfach nicht.

Gut. Was geschah, nachdem Manou das Zimmer betreten hatte? Es hatte auf jeden Fall irgendetwas mit Nawin zu tun! Ah ja! Sie hat ihm etwas angetan. Aber was? Sie hatte ihn nicht gewürgt. Dennoch hatte er nach Luft gerungen.

Aber was kam danach? Ich wusste nur, dass ich ziemlich wütend geworden war. Erst tat sie einem zwölfjährigen Jungen etwas an, nun Nawin. Ich war wütend. Ziemlich wütend. Ich hatte ihr wehtun wollen. Mehr als nur das.

Plötzlich stockte ich. Das! Das war es! Ich hatte die Beherrschung verloren. Sollte Manous Geschichte Stimmen, war die Monsterseite in mir hervor gekommen.

Aber wenn ich Manou wehtun wollte, weshalb war dann Desdemona sauer auf mich? Ich biss mir auf die Unterlippe. Bestimmt wollte sie dazwischen gehen und ich bin in meinem Wahn auf sie losgegangen. Natürlich! So war es! Erinnerungsfetzen kamen zurück. Die Schuldgefühle erdrückten mich. Ich hatte Desdemona wehgetan. Kein Wunder, dass sie jetzt so abweisend war. Und mal ehrlich? Ich hatte es verdient. Ebenso, dass Nawin ein Messer nach mir geworfen hatte, um mich aufzuhalten. Manou hatte Recht. Ich würde der Untergang all derer, die ich liebte. Und das mit Desdemona würde sicherlich nicht das letzte mal gewesen sein.

Ich musste an damals denken, als ich den Jäger getötet hatte. Deswegen hatte ich Abstand von allen anderen nehmen wollen. Und nun wusste ich, dass ich tatsächlich gefährlich war. War es wirklich nicht möglich, diesen Zustand zu kontrollieren? Wenn nicht, hätte ich wirklich ein Problem. Ich musste mit Manou sprechen. Dringend. Und wenn das schon nicht möglich war, mit irgend einem anderen Jäger. Einem, der ohne Samthandschuhe an die Sache ran ging. Der mir die eiskalte Wahrheit sagte.

War ich gefährlich?

„Mika?", harkte Finley nach und sah mich erwartungsvoll an. Seine Zuversicht fing nach meinem langen Schweigen an zu bröckeln.

„Es tut mir leid.", sagte ich leise. Und damit meinte ich sowohl Finley, als auch Desdemona. Ich wandte mich von beiden ab, lehnte meinen Kopf an die kühle Scheibe und schloss meine Augen. Es würde bei dieser einzelnen Entschuldigung bleiben müssen. Denn nichts könnte das wieder gut machen, was ich Desdemona angetan hatte.

In der Hoffnung, dass es niemand von den anderen bemerkte, versuchte ich mich in den Kopf von Manou zu schleichen. Ich brauchte Antworten. Jetzt.

Doch das gestaltete sich als etwas Schwieriger als gedacht. Denn sobald ich in ihrem Kopf war, war aus dem Kofferraum ein leises Stöhnen zu hören. Manou wachte auf.

„Sie wacht auf!", rief Nawin. „Was soll ich tun?" Hektisch sah er zu Desdemona. Diese übernahm sofort das Kommando.

„Sie darf nicht zu nicht kommen!"; rief sie. „Sonst zieht sie uns allen die Luft aus den Lungen!"

„WAS TUT SIE?!", rief Finley entsetzt. Ich hörte, wie sein Herz immer schneller zu schlagen begann. „Sie kann uns alle töten, ohne auch nur einen Finger zu krümmen?!" Desdemona sah ihn nicht einmal an, sondern beobachtet Manou und gab Nawin Befehle.

„Wenn du schon Angst vor der hast ...", murmelte Desdemona. „Magst du Schmerzen?"

Verwirrt schüttelte Finley den Kopf. „Nein?" Es klang mehr nach einer Frage. Desdemona bemerkte das auch und schnaubte. „Du solltest mehr Angst vor Mika haben. Die kann nämlich viel mehr als dir nur die Luft zum Atmen zu nehmen!" Leise fügte sie noch hinzu: „Und dabei unterscheidet sie nicht einmal zwischen Freund und Feind." Bestimmt dachte sie dabei auch an Claire, die ebenso wie Desdemona meine Freundin gewesen war. Ich wusste, dass ich mich nicht zu rechtfertigen versuchen sollte. Dennoch tat ich das gedanklich. Claire hatte mich verraten. Sie hatte mir vorgespielt, eine Freundin zu sein. Und dann, als es hart auf hart kam, hatte sie mein Geheimnis jedem herum erzählt. Dabei wusste sie genau, was für Konsequenzen das für mich gehabt hätte, wäre ich nicht davongelaufen. Jedoch hatte Claire alles nur noch schlimmer gemacht. Und selbst obwohl sie tot war, ließ sie mir keine Ruhe. Desdemona wusste das genau.

Und eigentlich müsste sie auch wissen, dass ich nicht vorgehabt hatte, Claire zu töten. Na gut, im Nachhinein schon. Aber ich hatte es bereut. Sehr.

Ich zwang mich, mich wieder mehr auf Manou zu konzentrieren. Irgendwie kam ich nicht in ihren Kopf, wenn sie nicht bei Bewusstsein war. Gut zu wissen, dass es nicht funktionierte, wenn jemand ohnmächtig war.

„Mach was, Nawin!", rief Desdemona genervt. „Willst du etwa wieder keine Luft bekommen?"

„Nein.", antwortete Nawin nun ebenfalls genervt. Kurz darauf ertönte ein dumpfes Geräusch. Manou war wieder weg. Nawin hatte ihr wohl mit irgendetwas in seiner Verzweiflung auf den Kopf geschlagen.

So viel zu meiner Möglichkeit an Antworten zu kommen. Jetzt musste ich wohl oder übel warten, bis wir ankamen.



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