Kapitel 31 - Der Großkotz

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Er grinste wieder und sah zu MacKenzie. "Hat die kleine Desdemona etwa eine kleine Freundin? Oder ist sie bloß dein Schoßhündchen, das dir hinterherläuft?" Höhnisch musterte er mich.

"Ich hätte mehr erwartet für eine von MacKenzies Freundinnen, kleines Mädchen." Er lachte. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich ein wenig geschrumpft bin, als ich mich in Lune James verwandelt hatte. Ich bemerkte, wie MacKenzie sich neben mir merklich anspannte und versuchte, nicht gleich vor Wut zu explodieren.

Er musterte mich wieder und sein Lachen verstummte. Natürlich war ihm meine Narbe aufgefallen. Die war ja auch schwer zu übersehen. Er blieb stumm. Das nutzte MacKenzie aus.

Bedrohlich kam sie ihm näher und bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust, während sie ihn aus zornig funkelnden Augen ansah. "Nun hör mir mal zu, du Großkotz, ich habe dich davor gewarnt, meinen Namen auszusprechen! Und das kleine Mädchen ist weder mein Schoßhündchen, noch meine Freundin, also sage ich dir jetzt ma was!"

"Ja, ist gut! Ich höre!", provozierte der Großkotz grinsend.

MacKenzie schnaubte. Sie trat zurück. "Weißt du was? Mit dir kann man nicht reden!"

Grinsend kam er näher. "Du hast es doch gar nicht versucht."

Drohend erhob MacKenzie ihre Hand. "Man kann mit dir nicht reden, aber ich kann es anders versuchen."

Nun lachte er laut auf. "Willst du mich etwa schlagen, Desdemona?"

Die Wut war ihr nur zu gut anzusehen. Ohne Vorwarnung strömten aus ihrer Handfläche die Schatten. Der Großkotz fluchte und verengte seine Augen zu Schlitzen.

MacKenzie grinste.

Ich wartete. Wartete auf den richtigen Moment. Ich sollte keine voreiligen Entscheidungen treffen, die ich am Ende wieder bereute.

Die Schatten strömten auf ihn zu und er ließ sie nicht aus den Augen. Er schien die Sekunden hinunterzuzählen. Plötzlich riss er seine Hand hoch und eine gewaltige Wand aus Schatten stellte sich zwischen ihm und MacKenzie auf. Ihre Schatten prallten an seiner Wand ab. Sie fluchte. Es machte sie nur noch wütender.

"Feigling!", schrie sie.

Er lachte nur. "Du bist schwächer als ich dachte."

Ein Kreis aus Elementary hatte sich um uns herum gebildet. Sie alle riefen Namen.

Nur die wenigsten riefen "MacKenzie!" und wenn, dann nur aus Spaß und um sich über sie lustig zu machen. Wie ich es bereits erwartet hatte, war sie nicht sehr beliebt.

Die meisten jedoch riefen einen anderen Namen. Und das riefen sie voller Begeisterung. Er schien beliebt zu sein. "Liam!"

Einige musterten mich mit verwunderten Blicken. Natürlich, mich hatten sie schließlich noch nie gesehen.

MacKenzie war die Anstrengung anzusehen, während sie versuchte, Liams Schattenmauer zu brechen. Es gelang ihr aber nicht. So sehr sie sich auch anstrengte. Sie war ihm unterlegen und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

"Ist das alles was du kannst?", höhnte Liam.

MacKenzie sah ihn hasserfüllt an.

Langsam kam die Schattenwand immer näher, MacKenzie wurde leicht nervös, versuchte das jedoch zu verstecken. Das würde böse Enden. Ich hatte ja schon gesehen, was die kurze Berührung mit ihrem Schatten angestellt hatte. Was würde dann erst passieren, wenn sie die Mauer nicht zurückhalten konnte?

Was sollte ich tun? Oder sollte ich überhaupt eingreifen? Bedrohlich kroch die Schattenwand näher. MacKenzie wurde zunehmend panischer. Sie versuchte es mit all ihrer Kraft, doch das reichte nicht.

Die "Liam!"-Rufe wurden lauter und mehr.

Ich bemerkte eine Person, die nicht mit fieberte. Sie hatte eisblaue Augen, ihre Haut war blass, wie Meine und ihr Haar war silbern. Sie trug ausschließlich schwarz, was ein ziemlicher Kontrast zu ihrem hellen Selbst war. Sie sagte nichts, stand einfach da und beobachtete. Als sie bemerkte, dass ich sie musterte, erwiderte sie meinen Blick. Ihre eisblauen Augen strahlten nur so vor Kälte.

MacKenzies leiser Schrei riss mich los und ich blickte zu ihr. Liams Schattenwand war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sie hatte keine Chance. Sollte ich jetzt schon allen preisgeben was ich war? Wieso beendete das niemand?

MacKenzie zitterte vor Anstrengung. Liam lachte. Es schien nicht das kleinste bisschen an seinen Kräften zu zerren. Er genoss es, MacKenzie so verzweifelt zu erleben und zu wissen, dass er ihr überlegen war.

"Liam, ich hasse dich!", brachte sie zischend hervor, in der Erwartung, jeden Moment unter seinen Schatten zu verschwinden. Es reichte mir.

Liam lachte noch ein letztes mal, dann schickte er seine Schatten auf sie. Still stürzten sie sich auf MacKenzie, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, die Schüler johlten. Plötzlich waren die Schatten wie eingefroren. Sie bewegten sich nicht mehr um einen Millimeter. Liam runzelte seine Stirn. Ich konnte sehen, wie er sich anstrengte, wie er schwer atmend versuchte, seine Schatten dazu zu bringen, MacKenzie unter sich zu begraben.

Es herrschte Totenstille. Niemand sprach. Alle wunderten sich. MacKenzie blickte erstaunt nach oben. Nur noch ein Blatt hätte zwischen sie und Liams Schatten gepasst. Das war knapp gewesen.

"Was soll das?!", hörte ich Liam murmeln. Er versuchte es tatsächlich noch immer.

Alle sahen sich verwirrt an. Bis sie mein Grinsen sahen. Nun schien auch Liam mich wieder zu bemerken. Fragend sah er die anderen an, die mich anstarrten, bis sein Blick auf meine ausgestreckte Hand fiel. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, was ich getan hatte.

"Du?!", keuchte er.

"Ich.", sagte ich grinsend. Ich spürte immer noch die Energie, die meine Hand durchzuckte wie kleine Stromschläge. War ich jetzt immer noch nur ein kleines Mädchen und ein Schoßhündchen?

Fassungslos starrte er mich an. Ebenso alle anderen. Ein Raunen ging durch den Saal. Selbst MacKenzie schien fassungslos.

Langsam drückte ich Liams Schatten zurück. Er stemmte dagegen, doch es war kein Problem für mich. Noch ehe er sich versah, waren seine Schatten wieder verschwunden.

"Du bist eine Ghost.", stellte er trocken fest.

"Ich bin eine Ghost.", bestätigte ich grinsend.

Wirklich alle starrten mich an.

"Lune, was soll das?", redete MacKenzie leise auf mich ein. Sie fühlte sich sichtlich unwohl.

"Nach was sieht es denn aus? Ich helfe dir.", sagte ich nüchtern.

"Ich brauche keine Hilfe von dir! Ich hatte alles unter Kontrolle! Ich hätte das alleine geschafft!", sagte sie wütend.

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. Bedrohlich machte ich einen Schritt auf sie zu. "Das glaubst du doch nicht wirklich! Ich habe es doch gesehen, MacKenzie! Gesteh dir doch einfach mal ein, dass du meine Hilfe gebraucht hast!", zischte ich, "Und nur weil ich klein und ungefährlich aussehe, heißt das noch lange nichts! Merke dir meine Worte: Der Schein kann trügen!"

Mit diesen Worten wandte ich mich ab und ließ eine verwirrte MacKenzie, einen fassungslosen Liam und eine schweigende Halle zurück.

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