Kapitel 24.2 - Als der Wald verstummte

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Der Weg vor mir schien kein Ende zu nehmen.

Aus dunkel wurde langsam hell. Der Nebel lichtete sich und ich konnte wieder klarer sehen. Wo musste ich überhaupt lang? Und wo wollte ich hin? Ich befand mich mitten in einem mir unbekanntem Wald. Hatte ich mich verlaufen? Ich wusste es nicht. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich hin wollte.

Eine Krähe schrie. Andere folgten ihrem Beispiel. Etwas hatte sie aufgeschreckt. Ich ließ mich nicht beirren und lief weiter.

"Du wirst naiv, Mika. Paranoid.", murmelte ich leise vor mich hin und fühlte mich dabei selbst ein wenig verrückt, da ich mit mir selbst sprach.

Die Bäume warfen lange, dunkle Schatten vor mir auf den Boden. Dunkel und bedrohlich breitete sich das dichte Blätterdach über mir aus. Kein Wind wehte und die Blätter blieben still und unbewegt. Selbst die Krähen waren nicht mehr zu hören. Als wären sie nie dagewesen, als hätten sie nie existiert. Insgesamt schien der Wald mir nun wie ausgestorben und verstimmt.

Hier stimmt etwas nicht.

Doch ich ignorierte meinen Gedanken gekonnt. Ich bildete mir nur etwas ein. Das redete ich mir zumindest ein. Oder etwa doch nicht?

Ich konnte nur über mich selber den Kopf schütteln. Ich hatte zu wenig Schlaf gehabt. Das war es. Mehr war da nicht.

Die Schatten schienen mich zu verfolgen. Doch immer wenn ich mich umdrehte, waren sie unbewegt und genau dort, wo sie sein sollten.

Litt ich jetzt auch noch unter Verfolgungswahn? Ich zog den Gurt meiner Tasche höher. Kein Geräusch störte die drückende Stille des Waldes. Ich zwang mich, ruhig weiter zu laufen. Einen Schritt vor den anderen. Vielleicht sollte ich zuerst bei meiner Pflegemutter vorbei schauen. Ich schuldete ihr immerhin noch mehr als eine Erklärung.

Die Bäume schienen mich anzustarren. Als hätten sie Augen. Als hätte der Wald Augen. Doch das war natürlich totaler Unsinn. Ich vernahm ein Rascheln. So schnell hatte ich mich noch nie umgedreht. Mit erhobener Hand stand ich da, die Hand in die Richtung gerichtet, aus der das Geräusch gekommen war. Hektisch huschten meine Augen durch die Gegend.

Konzentriere dich.

Ich atmete einmal tief ein und aus. Ich musste ruhiger werden. Auf einmal fühlte ich, wie die Kraft mich durchströmen zu schien. Ich fühlte mich mächtig und alles andere, als hilflos. Dann passierte das, was mich aufkeuchen ließ.

Ich spürte eine Energie in meinem blindem Auge und auf einmal konnte ich sehen. Mehr als nur sehen. Ich schien mit meinem rechten Auge den ganzen Wald sehen zu können. Ich sah jeden Grashalm, jede Unebenheit des Bodens und der Bäume.

Ich konnte die Linien auf jedem einzelnem Blatt wahrnehmen, schien dennoch durch alles hindurch sehen zu können. Ein Gedanke kam mir auf und ich tat es. Ich dachte an das Anwesen meiner richtigen Familie. Und ehe ich mich versah, sah ich die große Villa vor mir.

Es fühlte sich so an, als würde ich genau davor stehen, nur, dass ich dazu noch immer den Wald sah, in dem ich mich befand. Ich bewegte mich durch den Wald, so als würde ich mich auf die Villa zubewegen. Ich kam ihr näher, streckte schon die Hand nach der Tür aus, doch griff ins Leere. Fassungslos blieb ich stehen, bis mir wieder einfiel, dass ich gar nicht wirklich dort war.

Ich lief weiter und glitt wie ein Geist unbeschadet durch die Tür. Ich schlug den Weg zum Wohnzimmer ein und sah, dass alle dort versammelt waren. Alle, außer mein Bruder. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte da so eine Ahnung, wo er sich befand und ich lief scheinbar die Treppen hinauf. Zugleich sah ich auf der anderen Hälfte meines Sichtfeldes noch immer den Wald.

Ich kam an meiner Zimmertür an. Sie war geöffnet, dabei hatte ich sie bei meinem Verschwinden geschlossen. Ich sah Will schweigend an meinem Fenster stehen sehen. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und sah aus dem Fenster. Seine Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt. Seine Miene war hart und seine Augen ausdruckslos. Beinahe erschienen sie mir leer. Ich konnte sehen, wie er hart seinen Kiefer zusammenpresste. Als würde er gleich schreien. Er wirkte angespannt und ziemlich ernst. Er blickte nicht ein einziges mal zu meinem leeren Bett.

"Will", kam mir der Name meines großen Bruders leise über die Lippen. Er hätte mich nicht hören können. Er hätte mich nicht hören dürfen. Und dennoch drehte er sich auf einmal um. Seine Augen blitzten hoffnungsvoll, doch er blickte durch mich durch. Hatte er erwartet, mich hinter sich stehen zu sehen? Hatte er mich tatsächlich gehört?

Der Ausdruck der Hoffnung verschwand aus seinen Augen und er wirkte wieder verbittert. Er lief durch mich durch, was ein wirklich merkwürdiges Gefühl war, als wäre ich bloß Rausch und er würde durch mich laufen. Ich folgte meinem Bruder hinunter.

Sofort kam unsere Mutter auf ihn zu. "Will, wieso kommt sie nicht herunter?"

Wills Miene änderte sich kein bisschen.

"Will, was ist los?", flehte meine Mutter. Ich sah den Ausdruck der Angst auf ihrem Gesicht. "Will?", es war kaum noch mehr als ein Flüstern. Es war komisch. Als schien sie etwas zu ahnen, ohne es zu wissen. Oder waren es einfach die Mutterinstinkte?

"Sie ist fort." Die Kälte in Wills Stimme ließ mich erschaudern. Unsere Mutter starrte ihn an. Ihre Augen wurden groß, als sie realisierte, was er gesagt hatte. "Nein!", hauchte sie und stützte sich am Stuhl ab, als würde sie sonst ihren Halt verlieren. Und immer wieder: "Nein!"

Wills Miene änderte sich nicht. Sie blieb eisern.

Der Rest unserer Familie sagte keinen Ton. Mein Großvater ließ seine Zeitung sinken, starrte mit einem abwesendem Blick aus dem Fenster, meine Großmutter sah entsetzt aus und sank in das Sofa, während sie ihren Kopf in ihren Händen stützte. Mein Vater ließ die Kaffeetasse und zwei Paar Boxhandschuhe fallen. Klirrend landete die Tasse am Boden, Kaffee spritze und die Tasse zerbrach in Tausend Scherben, die durch die Gegend flogen.

"Wieso?", war das einzige Wort, dass meine Mutter noch abgehackt herausbekam. Sie blickte meinen Bruder an. Sein Blick wurde für einen Moment weicher, als er "Ich weiß es nicht." sagte. Doch dann wurde seine Miene wieder härter und er wirkte wütend, aber auch verletzt und er schien sich hintergangen zu fühlen. "Sie ist einfach gegangen. Sie hat das geplant gehabt, das weiß ich! Wie hat sie gehen können?" Er raufte sich die Haare und tigerte aufgebracht im Raum umher.

"Ich habe sie doch gerade erst wieder!", flüsterte meine Mutter und sank entkräftet auf den Stuhl. Ich fühlte mich schlecht. Ich hätte das nicht tun sollen. Doch jetzt war es zu spät. Ich hatte es bereits getan. Will musste mich jetzt hassen oder ziemlich wütend auf mich sein. Meine Mutter hatte ich dadurch verletzt und mein Vater und meine Großeltern wirkten auch nicht gerade so, als würde es ihnen gut gehen. Mit meinem Großvater hatte ich in der wenigen Zeit, in der ich im Anwesen gewesen war nicht gerade viel gesprochen. Ebenso eigentlich mit den anderen. Und dennoch sorgten sie sich um mich und ich sah, dass sie mich liebten.

Was hatte ich getan? Ich verließ einfach die Szene vor mir und befand mich wieder vollkommen im Wald. Ich lief los. In irgendeine Richtung. Das war das, was ich am besten konnte. Wie ein Feigling davonlaufen.


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