Kapitel 22 - Familie ✅

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Augenblicklich floss ein Strom aus Tränen über meine Wangen. Das konnte doch nicht sein. Wieso? Wieso musste es immer mich erwischen? Was hatte ich falsch gemacht? Natürlich wusste ich, dass ich nicht so unschuldig war, wie ich es gerne hätte. Ich hatte Menschen ermordet. Den Jäger und Claire. Was war eigentlich aus dem zweiten Jäger geworden?

Das alles hatte mit Damon in meiner Heimatstadt begonnen. Und zu dem Zeitpunkt war ich tatsächlich noch ein unschuldiges normales Mädchen gewesen. Wie hatte sich alles so verändern können?

Kraftlos zog ich meine Knie an meinen Oberkörper und umschlang fest meine Beine. Alles war vorbei. Was sollte ich bloß tun? Meine Leben lag in Trümmern. Und jetzt wusste ich nicht einmal, wo ich war. Wie ich überhaupt hierher gekommen war.

Von draußen hörte ich schnelle Schritte. Irgendwer rief etwas, doch wurde ignoriert. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Damon stand im Türrahmen. Aus großen Augen sah ich ihn an.

»Damon?«, fragte ich irritiert. Was machte er denn hier? Schlagartig erbleichte ich. Er hatte mich doch nicht etwa zu den Jägern gebracht? Mein Leben war nicht nur zu lauter Scherben zerbrochen, sondern würde auch noch bald enden. Jetzt könnte er ganz sicher nicht mehr sagen, dass er am Leben lassen könnte.

Damon sah entsetzt aus, als er meine rechte Hälfte sah, dennoch ging er zielstrebig auf mich zu und musterte mich. »Was ist passiert?«, wagte ich leise zu fragen. Bestimmt würde mir die Antwort nicht gefallen.

»Du hast das Bewusstsein verloren, als dein Bruder und ich dich erreichten.«, sagte er.

»Und ... der Jäger?« Meine Stimme war kaum vernehmbar.

»Er lebt.«, informierte er mich. Eine kurze Welle der Erleichterung durchfuhr mich. Immerhin nicht noch ein weiterer Toter. Das wäre zu viel zu ertragen gewesen. Trotzdem hielt sich meine Sorge hartnäckig. Wo war ich hier?

»Was machst du hier?«, wollte ich vorsichtig wissen. Innerlich hoffte ich verzweifelt, dass er mich nicht zu den Jägern gebracht hatte. Bitte, bitte, nicht.

Betont gleichgültig zuckte er mit seinen Schultern. »Dein Bruder hat mich gezwungen zu helfen. Und jetzt bin ich hier. Als Gefangener oder dergleichen.«

Jetzt war ich noch verwirrter als am Anfang. Das schien Damon mir auch anzusehen, denn er seufzte schwer und lenkte ein, mir eine Erklärung zu liefern. »Ich habe deine Wunde ausgebrannt.«, sagte er. »Und dich mit deinem Bruder hergebracht. Da ich aber nicht sonderlich willkommen bin - welche eine Überraschung - sitze ich jetzt hier fest.«

Seine Worte halfen mir nicht, zu verstehen. Er hatte mir geholfen, anstelle mich zu töten. Nun gut, anscheinend nicht gerade freiwillig, aber immerhin. Außerdem hatte er mir bis jetzt nichts getan, obwohl er mit mir alleine war.

»Wirst du mich töten?« Die Worte wollten nur schwer über meine Lippen. Und ich fürchtete die Antwort. Doch zu meiner Überraschung, sah Damon unschlüssig aus.

»Ich weiß es nicht.«, sagte er langsam. »Deine Kraft ist gefährlich. Sehr gefährlich. Vor allem, da du sie nicht kontrollieren kannst. Aber du selbst bist nicht bösartig. Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber mir scheint es, als würde deine Kraft dich kontrollieren. Sie macht sich in bestimmten Fällen selbstständig. Noch kannst du lernen, sie deinem Willen zu beugen. Doch wenn du es nicht kannst, dann nützt es dir auch nichts, dass du kein schlechter Mensch bist. Denn dann werde ich dich trotzdem töten müssen. Zum Wohle aller.«

»Sie fühlt sich fremd an. Als wäre sie kein Teil von mir.«, gestand ich leise. »Ist das normal, wenn man erst seit Kurzem von ihr weiß?«

Nachdenklich runzelte er seine Stirn. »Eigentlich nicht, nein. Aber bei dir ist das irgendwie anders, kann ich mir vorstellen.«, überlegte er. »Normalerweise hättest du schon längst von ihr und ihrem Ausmaß gewusst. Nicht erst jetzt. Ich denke, etwas hat sie blockiert. Wie, weiß ich nicht. Und da du nicht mit dem Wissen um sie aufgewachsen bist, kann ich mir schon vorstellen, dass sie sich jetzt fremd anfühlen könnte.« Damon klang nicht sehr überzeugt. Das schien auch er selbst zu merken.

Meine Kraft sollte sich nicht wie ein Parasit anfühlen, als hätte sie einen eigenen Kopf mit eigenem Willen und schlummerte bloß in mir, ehe sie von mir und meinen Gefühlen zehren konnte. Ich hoffte wirklich, dass es bloß daran lag, dass sie sich erst so spät in ihrem vollen Ausmaß offenbart hatte. Denn merkwürdigerweise, wenn ich damals durch die Augen meiner Mitschüler sah, fühlte sie sich nicht so an. Wenn ich bloß das tat, gehörte sie zu mir. War ein Teil von mir. Wieso?

Erst jetzt bemerkte ich das Geräusch von Schritten. Weitere Personen kamen in diese Richtung. Und ich konnte nur hoffen, dass Damons Aussage stimmte, und mein Bruder uns hergeführt hatte und ich nicht bei den Jägern war.

Ehe ich mich darauf vorbereiten konnte, betraten auch schon Fremde den Raum. Zwei von ihnen waren ein älteres Pärchen, dann die unheimliche Frau von vorhin und zum Schluss Will. Er hatte seinen Arm um die Frau gelegt. Erst jetzt fiel mir auch die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf, abgesehen von ihren sturmgrauen Augen.

Mit einem Mal wurde mir ganz anders, als langsam die Groschen fielen. Nein. Unmöglich! Man hatte mich doch nicht etwa ... Doch. Hatte man. Will hatte mich zu seiner Familie gebracht. Zu meiner Familie. Diese Leute hier mussten alle Familie sein. Meine leibliche Familie.

Durch Damons Erzählung wusste ich, dass sie keineswegs unschuldige Lämmchen waren. Auch sie hatten Jäger getötet. Doch hatten sie auch gewöhnliche Elementare getötet? Wie Galle kam diese Reue wieder in mir hoch und hinterließ einen bitteren Geschmack. Wussten sie, was ich getan hatte?

Erleichtert lächelnd kam Will auch mich zu und zog mich in seine Arme. Für Damon hatte er bloß einen misstrauischen Blick übrig. »Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht!«, flüsterte er.

War es so? Ging es mir wieder gut? Ich hatte zwei Menschen getötet und unzählige verletzt, während ich eine ganze Halle zerstört hatte. Vermutlich jagten mich jetzt nicht nur die Jäger. Außerdem konnte ich mit meinem rechten Auge nichts mehr sehen. Es war nutzlos. Es war kaputt.

Will ließ mich vorsichtig wieder los. Nun sah er mich traurig an. »Wir konnten es nicht mehr retten. Es tut mir leid.«

Mein Auge. Mein Herz wurde schwer.

Doch Will wechselte schnell das Thema: »Mika, darf ich dir unsere Familie vorstellen?« Er zog mich auf die Beine, Damon trat einen Schritt beiseite, damit ich einen besseren Blick auf die drei Menschen an der Tür hatte.

Die seltsame Frau, die Will und mir so ähnlich war, wirkte jetzt ganz anders, als vorhin, als sie mich kritisch gemustert hatte. Sie wirkte wie ausgewechselt. Als sei sie eine ganz andere Person. Irgendwie war mir das nicht geheuer, doch ich schob das Gefühl beiseite.

Sie trat vor. Lächelte ein trauriges und bedrücktes Lächeln. Gleichzeitig sah sie aus, als würde sie am liebsten weinen. Dennoch lächelte sie. Mich jedoch verunsicherte das. Liebend gerne hätte ich ihr das abgekauft, doch nachdem sie mich so lange so ausgiebig gemustert hatte und auf der Suche nach etwas schien, wusste ich nicht, ob ich das konnte. Ich kannte sie nicht. Vielleicht schätzte ich sie auch bloß falsch ein.

»Mika, ich bin deine Mutter.«, sprach sie die Worte, die ich bereits erwartet hatte. Und obwohl sie mich verunsicherte, spürte ich, wie mir die Tränen in den Augen brannten. Meine Mutter. Hier stand sie nun, nachdem sie mich abgegeben hatte, als ich noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen war. Wegen ihr und meinem Vater hatte ich meine leibliche Familie niemals kennengelernt. Dennoch: Hätten sie es nicht getan, wäre ich niemals Hanne, meiner Adoptivmutter, begegnet. Und ein Leben ohne sie konnte ich mir nicht vorstellen.

Das Lächeln der Frau, die meine Mutter war, begann leicht zu beben und es verschwand langsam. Ihre Augen sahen mich traurig an und die erste Träne verließ ihr Auge. Und mit einem Mal, nahm ich ihr das tatsächlich ab. Ihre vorheriges Verhalten, schrieb ich einfach der Tatsache zu, dass wir einander nicht kannten und sie mich zum ersten Mal gesehen hatte. Sie schaffte es nicht, diese Stärke zum Lächeln aufrecht zu erhalten.

»Ich weiß, was ich dir angetan habe, in dem ich dich weggegeben habe. Das und noch viel mehr.« Ihre Stimme bebte und nun flossen auch bei ihr die Tränen unaufhörlich. »Und ich bereue es jeden Tag. Ich weiß, ich habe es verpasst, wie du aufgewachsen bist! Ich weiß, dass ich nie ein Teil deines Lebens war und ich weiß, dass du das Recht hast, mich zu hassen, aber ich bitte dich! Gebe mir eine Chance, dir eine Mutter zu sein! Und wenn schon das nicht, gebe mir eine Chance, ein Teil deines Lebens zu sein!«

Sie weinte. Ich weinte. Mir entging Damons argwöhnischer Blick.

ObscuraWhere stories live. Discover now