Kapitel 19 - Schreie, Tod und Tränen ✅

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Will betrachtete sie lange an. »Ich weiß es nicht.«, sagte er dann.

Lügner.

Behutsam zog er sie hoch und nahm sie in den Arm. Beruhigend strich er ihr über den Rücken. Sie schluchzte unerbittlich. Zwei Krankenschwestern kamen mit einer Trage auf die Tote zu. Sie legten die Trage neben ihr ab und verfrachteten die Leiche darauf. Anschließend kam die dritte Krankenschwester und breitete ein weißes Tuch über dem Körper aus. Die beiden anderen nahmen an die Trage und trugen die Leiche aus der Halle.

Das Mädchen schrie panisch den Namen ihrer verstorbenen Freundin und wollte den Krankenschwestern hinterher rennen, doch Will hielt sie entschieden fest und hinderte sie daran, den Krankenschwestern, die die Leiche trugen, hinterher zu rennen.

Bis auf die Schreie des Mädchens war es in der Halle totenstill. Alle mussten das Geschehene erst einmal verdauen und wirklich realisieren.

Nun hatte sich das Mädchen langsam beruhigt und Will ließ sie los. Sie sank sofort entkräftet und von ihrer Trauer überwältigt zu Boden. Ihr fehlte jede Energie. Nur ihre Tränen vergingen nicht. Eine ihrer anderen Freundinnen kam auf sie zu und umarmte sie, während ihr selbst die Tränen über die Wangen liefen. Stumme Tränen.

Will ließ seinen Blick auf der Suche nach mir durch die Halle gleiten. Ich sah Damon, der sich wankend aufrappelte. Über seinem linken Auge blutete er, da er sich an einer der Scherben geschnitten hatte. Auch er war auf der Suche nach mir. Damon und Will entdeckten mich zeitgleich. Ich erstarrte in den Schatten. Beide gingen mit zielstrebigen Schritten auf mich zu.

Augenblicklich ergriff die Panik von mir Besitz. Überfiel mich, noch ehe ich überhaupt wusste, was geschah. Eisern schloss sich ihre Hand um mein Herz. Nahm mir die Luft zum Atmen. Und das Zittern setzte wieder ein. Das, was ich hier getan hatte, war nicht, weil ich mich verteidigen musste. Es war meine eigene Wut gewesen. Ich hatte sie töten wollen. Und mir war egal gewesen, dass ich die Halle zerstörte und andere verletzte. Es war mir egal gewesen, dass andere um sie trauern würden. Das hier ließ sich unter keinen Umständen als Notwehr erklären. Das hier war eiskalter, grausamer Mord. Wieso hatte ich nichts unternommen?Weshalb hatte ich es nicht aufgehalten?

Sie kamen mir näher. Was würde passieren, wenn sie mich schnappten? Würde ich eingesperrt werden? Oder schlimmeres? Jetzt musste Will mich hassen. Anders konnte es gar nicht sein.

Und Damon? Ich hatte keine Ahnung. Würde der Jäger wieder Jagt auf mich machen? Schließlich hätte ich ihn, wie auch die anderen, beinahe getötet. Das hier war der Beweis, nach dem er Ausschau gehalten hatte. Jetzt würde er mich töten. Für die Sicherheit aller.

Ich war gefährlich. Ich war mächtig. Allein deswegen müsste Damon mich töten. Und er war ein Jäger. Lange genug hatte er mich verschont.

Damon, wie auch Will hielten ihren Blick fest auf mich gerichtet. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Dann ergriff ich Hals über Kopf die Flucht. Meine Beine wollten mich kaum tragen, doch ich konnte es mir nicht leisten, jetzt einzuknicken. Ich musste weg! Schnell eilte ich aus der Halle, in den Korridor und hastete um eine Ecke. Meine Gedanken schlugen Salto, kreischten verzweifelt, jaulten vor Schmerz auf, sodass ich kaum noch etwas anderes als sie wahrnahm. Schritte folgten mir. Schnelle Schritte. Beide folgten mir.

»Mika, bleib stehen!«, rief Will. Ich konnte nicht heraushören, was er dachte oder fühlte. Natürlich blieb ich nicht stehen.

»Bleib stehen, Mika!«, er wurde lauter und holte langsam auf. Damon ebenso. Ich stürmte weiter und erwischte noch gerade so die Kurve. Mein Verstand und mein Herz waren sich einig. Beide pochten auf Flucht. Ehe ich zusammenbrechen durfte.

»BLEIB STEHEN!« Die Lautstärke seiner Stimme ließ mich erzittern.

Ich spürte, wie seineKraft sich nach mir ausstreckte und mich umklammern und zum Stehenbleiben zwingen wollte. Fest umschloss mich seine Kraft, nahm mich gefangen. Es war, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Hektisch atmete ich. Sie durften mich nicht bekommen!

Mit meiner eigenen Kraft kämpfte ich gegen seine an. Wer war stärker? Der Stärkere von uns würde siegen. Entweder würde Will mich durch seine Macht hier behalten können oder ich könnte mich befreien. Wir beide strengten uns an, konzentrierten uns. Es erforderte meine ganze Willenskraft. Verbissen kämpfte ich gegen ihn an. Dann gab es einen Knall. Will wurde zurückgeschleudert und ich konnte mich wieder bewegen. Ohne weiter zu überlegen nutzte ich die Chance und rannte.

Draußen angekommen stürmte ich Hals über Kopf in den finsteren Wald hinein. Immer tiefer und tiefer. Äste schlugen  mir entgegen, doch auch das hielt mich nicht auf. Die ganzen Schrammen registrierte ich gar nicht.

Einige Zeit später, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, blieb ich stehen. Ich musste sie abgehängt haben. Keuchend ließ ich mich auf den Boden fallen. Meine Lungen schmerzten und ich sog begierig die Luft in ein.

Nun füllten sich meine Augen mit Tränen. Zum Teil, weil ich Claire getötet hatte. Aber auch, weil ich die Halle zerstört und so viele verletzt hatte. Vor allem jedoch weinte, weil mich mein Bruder hassen würde. Damon sowieso. Wie sollte ich mir jetzt noch selber ins Gesicht sehen können? Zwar hatte Claire es verdient, aber ich hätte sie nicht töten dürfen. Das war etwas ganz anderes, als bei dem Jäger. Obwohl sie eine grausame Person war, war sie in gewisser Weise unschuldig. Was mich jedoch noch mehr mitnahm war, dass ein winziger Teil in mir, ihren Tod gleichgültig hinnahm. Zufrieden war.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Erschrocken schrie ich auf.

»Mika.«




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