Kapitel 9.2 - Elementtraining ✅

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Claire hatte sich zu einer kleinen Gruppe von Mädchen gesellt und plauderte jetzt angeregt mit ihnen. Mich ignorierte sie vollkommen. Als hätten wie nie auch nur ein einzelnes Wort untereinander ausgetauscht.

Aiden dagegen sah immer wieder panisch zu mir, als erwartete er, dass ich wieder die Kontrolle über seinen Körper übernahm. Oder ihm, wie auch allen anderen, Schmerzen bereitete, wie vor Kurzem auf dem Kampfplatz. Bei jeder noch so kleinen Bewegung meinerseits zuckte er zusammen.

Also war ich ziemlich erleichtert, als Mrs D, unsere Klassenlehrerin kam und uns endlich hinein ließ. Schnell setzte ich mich auf meinen Platz, der sich, wie mir wieder klar wurde, leider neben Claire befand. Leise verfluchte ich mich, dass ich daran nicht schon eher gedacht hatte. Augenblicklich fühlte ich mich nur noch elendiger.

Oh! Ich musste meiner Mutter noch einen Brief schreiben.
Garantiert wollte sie wissen, wie es mir ging und wie ich das Internat fand und eben alles andere, was Mütter so wissen wollten. Was sollte ich ihr nur erzählen?

Schweigend und mich weiterhin ignorierend setzte sich Claire neben mich, rutschte allerdings so weit von mir weg, wie der Tisch es zuließ. Hätte sie es gedurft, hätte sie ihren Stuhl ganz sicher in den Gang geschoben. Warum konnten sie alle einfach nicht akzeptieren, was für ein Element ich beherrschte und mich einfach so wie jeden anderen auch behandeln?

»Guten Morgen!«, grüßte uns Mrs D. Allerdings wirkte sie heute ernster als sonst. Direkt bekam ich ein ungutes Gefühl. Hoffentlich wollte sie mit uns nicht darüber sprechen.
»Guten Morgen.«, murmelte die Klasse zurück.
»Heute werden wir nicht mit unserem geplantem Unterricht fortfahren!«, verkündete die Lehrerin. Alle blickten kurz überrascht auf, ein Grinsen huschte über ihre Lippen.
»Wir werden heute über den Vorfall beim Kampftraining sprechen!«, verkündete Mrs D mit ernster Miene. Sofort erloschen die Grinsen auf den Lippen der Schüler. Ich sank in meinem Stuhl in mich zusammen wie ein Luftballon mit einem Loch. Wollte Mrs D mir das jetzt wirklich antun? Mir war, als würde ich gleich umkippen.

Mrs D suchte meinen Blick, ihre Miene wurde sanfter.
»Mika, komm doch bitte nach vorne.« Schlagartig erbleichte ich und ein eisiger Schauer kroch quälend langsam über meinen Rücken. Oh nein! Alles nur das nicht!
Geschockt sah ich meine Lehrerin an. Sie wollte mir das doch wirklich antun! Ich konnte das nicht!

»Mika? Kommst du?«, fragte Mrs Davis sanft. Alle drehten sich zu mir um, sahen mich an. Erneut erschien das Unheil versprechende Damoklesschwert über meinem Kopf. Bereit, zu fallen.

Ich schluckte einmal, dann erhob ich mich widerwillig und ging mit weichen Knien nach vorne. Alle Blick folgten mir, klebten an mir wie Kaugummi. Vorne angekommen sah ich zu der Lehrerin und wollte es schnell hinter mich bringen.

»Dreh dich bitte zur Klasse.«, bat Mrs D und ich tat was sie sagte.
Ich blickte in die Gesichter von vierundzwanzig Luftelementaren. Alle von ihnen schienen mich mit ihren Blicken nieder starren zu wollen. Selbst Claire wagte es, mich anzusehen.

Sah ich da etwa Schuldgefühle in ihrem Blick? Ach was. Das bildete ich mir doch bloß ein. Weshalb sollte sie Schuldgefühle haben? Schließlich hatte ich sie verletzt und verängstigt. Sie hatte allen Grund, sich von mir fernzuhalten. So weh das auch tat.

»Ihr alle kennt Mika. Spätestens beim Kampftraining müsste sie euch aufgefallen sein.«, begann Mrs D. »Sie hat ihre Kräfte, ihr Element, entdeckt. Sie beherrscht keines der euch bekannten Elemente. Oder vielleicht haben einige von euch doch schon einmal etwas vom Geist-Element mitbekommen.« Forschend blickte Mrs D in die Runde. Ich fühlte mich unwohl. Wieso musste ich hier vorne stehen? Ich konnte genauso gut sitzen bleiben! Das hätte man auch deutlich angenehmer regeln können. Hier vorne kam ich mir vor wie auf dem Präsentierteller. Ein Tier, das begafft werden konnte.
»Geistelementare sind sehr selten.«, fuhr Mrs D fort. »Heute sind sie noch weniger, da sie bis vor ein paar Jahren noch gejagt und getötet wurden. Manche von ihnen sind untergetaucht und nicht wieder aufgetaucht. Das liegt zum Teil auch daran, dass es heute immer noch Elementare gibt, die sie jagen und ausrotten wollen.« Jetzt kam ich mir noch mehr vor, wie eine vorm Aussterben bedrohte Tierart, die sich die anderen zu ihrer Belustigung anschauen konnten.

Keiner sagte einen Ton. Alle hatten ihre Blicke entweder auf ihre Tischplatten, die Lehrerin oder mich gerichtet. »Geistelementare sind stark. Auch haben sie manchmal eine äußerst beängstigende Macht.«, erzählte Miss D weiter. »Das habt ihr ja beim Kampftraining gesehen.« Niemand wagte es, mich anzusehen. Worauf wollte Miss D mit diesem Gespräch hinaus? »Mika hier«, sie deutete auf mich. »wusste bis vor Kurzem von alldem nichts. Weder von ihren Fähigkeiten, noch von den Elementaren.
Und dass sie ein Geistelementar ist, unterscheidet sie nicht von uns anderen Elementaren. Sie ist genau wie wir alle hier ein Elementar. Ein Mensch mit der Macht, ein Element zu beherrschen.« Mrs Davis' Miene wurde finsterer.
»Und dennoch behandelt ihr sie, wie auch Will, nun anders, da ihr wisst, dass sie ein Element beherrschen, von dem ihr bis vor Kurzem nicht einmal gewusst habt, dass es existiert.« Der Blick der Lehrerin wanderte tadelnd und finster über die Schüler, die allesamt auf ihre Tischplatten schauten. Nein, dachte ich im Stillen. Das war nicht der einzige Grund. Ich hatte unzählige Schüler gequält. Das war die Hauptursache. »Es frustriert mich, wenn ich sehe, wie ihr eure Mitschülerin behandelt. Denkt noch einmal darüber nach. Mika ist weder ein Monster, noch etwas, wovor man sich fürchten und die Flucht ergreifen muss. Denkt noch einmal über euer Verhalten nach. Und verletzen wollte sie euch niemals absichtlich. Mittlerweile lernt sie, die Kontrolle über ihr Element zu behalten. - Mika, du kannst dich wieder setzen.«

Schnell machte ich, dass ich wieder auf meinen Platz kam. Lange genug hatte ich vorne gestanden. Alle anderen sagten noch immer kein Wort und hoben ihre Köpfe nicht. Die Lehrerin setzte sich auf ihren Stuhl hinter dem Pult, schwieg, ließ den Schülern Zeit, um über ihre Worte nachzudenken.

Ich begann Sympathie für die Lehrerin zu empfinden. Sie wollte doch tatsächlich, dass die anderen besser mit mir umgingen und dass ich dazugehörte. Dennoch übersah sie gerne die Tatsache, dass ich mir das selbst eingebrockt hatte. Nicht, dass ich ihr nicht dankbar wäre. Auf keinen Fall! Nur glaubte ich nicht, dass ihre kleine Ansprache großartig etwas änderte.


Die restliche Stunde war schnell vorbei. Ich wollte gerade als einer der letzten den Klassenraum verlassen, als Claire mich zurück hielt.
»Mika?«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang ein wenig zerknirscht. Überrascht drehte ich mich zu ihr um. Was wollte sie von mir? Ich hatte gedacht, sie würde nie wieder freiwillig mit mir reden wollen. Zurecht.

»Es tut mir leid.«, sprach sie so leise aus, dass ich sie kaum verstehen konnte. Claire wippte nervös von einem Bein aufs andere und mied es, mir in die Augen zu sehen.
Ich konnte nichts anderes tun, als sie anzustarren. Hatte sie sich tatsächlich bei mir entschuldigt? Ausgerechnet bei mir? Jetzt fühlte ich mich doch tatsächlich schlecht. Nicht sie sollte sich entschuldigen. Sie war die erste Freundin, die ich jemals gehabt hatte. Und ich hatte alles kaputt gemacht.

Anscheinend hatte Mrs D's »Rede« tatsächlich etwas bewirkt. Trotz meiner Schuldgefühle erwachte in mir wieder ein kleiner Funken Hoffnung. Klein, aber unzweifelhaft existent. Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern und ich würde endlich dazugehören oder wenigstens so wie alle anderen behandelt werden.
Doch das hier reichte mir fürs erste. Claire redete wieder mit mir.
Vielleicht bestand ja doch die Chance, dass wir uns wieder anfreunden konnten. Ich wünschte es mir so sehr. Die wenige Zeit, die ich mit Claire verbracht hatte, hatte ich genossen. Zum aller ersten Mal hatte ich gewusst, wie es war, Freunde zu haben. Und es war ein unglaubliches Gefühl. Ohne Einsamkeit. Mit jemandem, mit dem man über alles sprechen konnte. Jemand, der an deiner Seite stand.

Vielleicht würde doch nicht alles so schlimm werden, wie ich es mir vorgestellt hatte.

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