Kapitel 1 - 16 Jahre später ✅

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Miss Collins knirschte mit den Zähnen. Ihre Finger krallten sich schon fast in die Hefte, als sie die wieder zu sich zog. Es war offensichtlich, dass sie mit dem Verlauf dieses Gesprächs nicht zufrieden war. Zuerst wirkte es so, als würde sie noch etwas erwidern wollen, doch sie besann sich eines Besseren und schwieg. Hoffentlich würde sie nicht noch mit Josie reden. Ich wollte doch nur meine Ruhe.

»Nun gut.«, brachte meine Lehrerin nach einer kurzen Stille heraus. »Dann wäre wohl alles geklärt. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, Mrs Keaton.« Sie nickte meiner Mutter knapp zu.

»Aber natürlich.«, erwiderte meine Mutter lächelnd. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Sie erhob sich und sah mich auffordernd an.

»Ach, und Mika?« Miss Collins Augen schienen mich zu durchbohren. Zögerlich blickte ich zu ihr. »Wir sehen uns am Montag.« Schnell nickte ich und sprang beinahe schon aus dem Stuhl. Im Gehen murmelte ich noch ein leises »Tschüss«, ehe ich meiner Mutter aus dem Raum hinaus auf den Flur folgte. Dieser war leer. Immerhin hatten die meisten Schüler bereits Schulschluss. Und die, die noch hier waren, befanden sich noch im Unterricht.

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Vorsichtig sah ich zu meiner Mutter. Diese musterte mich eingehend. Sie wirkte nicht sehr zufrieden. Ihre schönen, blauen Augen schienen sich in meine Seele zu bohren. Früher oder später würde ich es ihr sagen müssen. Aber lieber später als früher.

Schließlich brach sie unseren Blickkontakt und fuhr sich mit der Hand durch das halblange, hellbraune Haar, das sie wieder einmal hochgesteckt hatte. Im Gegensatz zu mir war sie leicht pummelig und hatte meist ein sanftes Lächeln auf den Lippen. Dieses jedoch fehlte jetzt. »Darüber sprechen wir später noch.«, sagte sie und es gefiel mir gar nicht, dass ich ihre Laune gerade nicht einschätzen konnte. Seufzend streckte sie ihren Arm nach mir aus und strich mir sanft über den Rücken, wobei sich ihre Hand in meinem tiefschwarzen, langen Haar verhedderte. Kurz verzog ich mein Gesicht, ehe sie ihre Hand vorsichtig wieder befreite. »Entschuldigung.«, sagte sie und seufzte erneut. »Ich werde jetzt noch einkaufen gehen. Möchtest du mitkommen?« Sofort schüttelte ich meinen Kopf. Es wäre besser, sie jetzt erst einmal alleine zu lassen, sodass sie, falls sie wütend war, wieder ruhiger wurde. Somit kam es mir gerade gelegen, dass sie einkaufen wollte. »Hast du dein Busticket?«

»Habe ich.«, sagte ich. Wie sollte ich auch sonst zur Schule kommen?

Meine Mutter nickte und ihre blauen Augen lagen wieder auf mir. Manchmal beneidete ich sie um ihre Augen, denn die waren wirklich schön. Meine dagegen ließen sich als sturmgrau beschreiben. Generell hatten wir beide nichts gemeinsam. Meine viel zu dunklen Haare in Kombination mit meiner blassen Haut ließen mich so aussehen, als bekäme ich kaum Schlaf ab. Immer. Wirklich etwas daran ändern konnte ich nicht.

Sie dagegen wirkte manchmal wie das Leben selbst. Aber es war nicht wirklich verwunderlich, dass wir so unterschiedlich waren. Schließlich war Hanne nicht meine leibliche Mutter. Sie hatte mich adoptiert, nachdem ihr Mann, Stephen, bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam.

»Na dann. Bis später.«, verabschiedete sich meine Mutter und wollte gerade gehen, als sie sich noch einmal zu mir umdrehte. »Ach ja, bevor ich es vergesse: Das Mittagessen steht bereits im Kühlschrank. Wenn du nach Hause kommst, kannst du dir einfach was davon nehmen.«

Eine ungute Ahnung beschlich mich. »Bitte sag mir, dass es nicht wieder Spiegeleier mit Jogurt gibt.«, flehte ich sie aus weit aufgerissenen Augen an. Tatsächlich lachte sie. »Gut geraten.«, meinte sie und zwinkerte mir grinsend zu. Ich ließ meine Schultern sinken. Nicht schon wieder.

»Das überlebst du schon. Immerhin kannst du dich umso mehr auf die Spagetti morgen freuen.«, munterte sie mich auf, ehe sie in die entgegengesetzte Richtung verschwand. Seufzend sah ich, wie sie hinter einer Ecke verschwand. Ich schulterte meine Tasche und verließ das Schulgebäude.

Kurze Zeit später wartete ich auch schon auf den Bus, um in den Stadtwald zu fahren. Ich mochte den Stadtwald. Es war dort so schön ruhig und man wurde nicht gestört. Man konnte in aller Ruhe nach denken oder einfach mal für eine Weile den Stress oder was auch immer es gab, vergessen. Ich liebte es, irgendwo ungestört sein zu können. Und der Wald bot sich dafür einfach nur zu gut. Zumal ich keine Lust hatte, meiner Mutter zu früh wieder zu begegnen. Das Gespräch, das sie mir bereits angekündigt hatte, wollte ich so lange wie möglich herauszögern. Hätte ich eine beste Freundin, hätte ich vermutlich sie besucht. Doch leider hatte ich keine. Meine Mitschüler mieden mich schon seit ich denken konnte.

Nach ein paar Minuten der Warterei kam auch schon der Bus. Mit quietschenden Reifen hielt er vor mir und die Türen öffneten sich. Hinten strömten einige Leute heraus und ich stieg ein. Warme Luft umfing mich. Wiedereinmal funktionierte die Klimaanlage nur mäßig, oder der Busfahrer hatte sie einfach nicht eingeschaltet. Allerdings hatten wir auch schon Anfang August und so lange würde der Sommer nun auch wieder nicht mehr anhalten.

Wie gewohnt zeigte ich meine Fahrkarte vor und der Bus fuhr sofort mit quietschenden Reifen los. Hektisch griff ich nach der Haltestange, um nicht gleich umzukippen. Irgendwie konnten die Busfahrer nie warten, bis ich mich hingesetzt hatte. Oder sie mochten mich ganz einfach nicht. Auch eine Möglichkeit. Ich suchte mir einen leeren Zweierplatz am Fenster in der Nähe der hinteren Tür und eines Halteknopfes. Dort setzte ich mich. Stumm sah ich aus dem Fenster, während die Landschaft an mir vorbeizog. Der Bus hielt regelmäßig und immer wieder stiegen neue Leute ein oder gingen hinaus. Den ein oder anderen erkannte ich aus meinem Jahrgang, doch weder sie grüßten, noch ich. Wir ignorierten uns einfach. So war es am angenehmsten für sie, wie auch für mich. Dennoch kam ich nicht umhin, immer wieder heimlich zu ihnen hinüber zusehen. Lachend hatten sie es sich beieinander gemütlich gemacht und witzelten herum. Ironischer Weise erkannte ich unter ihnen auch Josie. Sofort riss ich meinen Blick von ihnen los und sah wieder aus dem Fenster. Hatte Miss Collins überhaupt schon mit ihr gesprochen? Hoffentlich nicht. Ich konnte nämlich wirklich darauf verzichten, dass sie mir hier vor allen anderen eine Szene machte.

Als ich schon fast an der Waldhaltestelle war, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dass jemand mich beobachtete. Unwohl rutschte ich auf meinem Sitzplatz hin und her. Ganz bestimmt bildete ich mir das gerade nur ein. Soweit ich gesehen hatte, befanden sich meine Mitschüler alle im vorderen Bereich des Busses, womit ich sie alle im Blick hatte. Und wer außer ihnen sollte mich schon beobachten?

ObscuraWhere stories live. Discover now