Kapitel 1 - 16 Jahre später ✅

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»Sehen Sie hier?« Miss Collins deutete auf die bearbeitete Aufgabe beider Klausuren. »Hier stehen exakt die gleichen Ergebnisse.«

Unbeeindruckt zuckte meine Mutter mit den Schultern. »Natürlich. Beide Mädchen haben die Aufgabe richtig gelöst.« Obwohl sie ganz gelassen klang, wusste ich, dass es hinter ihrer Stirn ratterte. Ängstlich beobachtete ich sie. Ihre Mimik verriet nichts. Dennoch war mir klar, dass sie ganz genau wusste, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Schließlich wusste sie, was für eine Niete ich in diesem Fach war. Ich versuchte, es ihr gleichzutun. Betont gleichgültig schielte ich zu den Heften. Innerlich sah es ganz anders aus. Mir war zugleich heiß und kalt. Meine Handflächen waren feucht. Wie zum Teufel sollte ich erklären, was passiert war?

Verärgert schüttelte Miss Collins den Kopf. »Die Klausuren der letzten Jahre befanden sich meist im Viererbereich.«, sagte sie. »Das hier ist aber eine zwei minus.« Ja, ich hatte definitiv übertrieben.

»Dann würde ich sagen, dass Mika sich deutlich verbessert hat.«, behauptete meine Mutter leicht lächelnd und schenkte mir einen stolzen Blick. Zumindest sah es für Miss Collins so aus. Zerknirscht knetete ich meine Hände. Zuhause gab es Ärger. Ganz bestimmt. Und das konnte ich gar nicht gebrauchen. Mir reichte es schon, dass es in der Schule immer so stressig war. Aber das lag nicht daran, dass ich überfordert war. Es lag eher an den Schülern und dass sich keiner von denen mit mir abgeben wollte. Die meisten von ihnen kannte ich bereits seit ich ein Kleinkind war. Bestimmt hatten sie mich immer noch als dieses seltsame Kind im Kopf. Auf keinen Fall wollte ich, dass es Zuhause nun auch angespannt verlief.

»Leider muss ich Ihnen sagen, dass sie das nicht hat.«, meinte Miss Collins. »So wünschenswert eine Verbesserung ihrer Leistungen in Mathematik auch wären.« Erneut tippte sie auf eine Aufgabe. »Auffallend ist, dass Mika die gleichen Fehler gemacht hat, wie Josie. Und auch die Formulierung der Ergebnisse der Textaufgaben ähneln sich.«

»Das wundert mich nicht.«, sagte meine Mutter und lächelte Miss Collins freundlich an. »Mathe ist anders als Englisch. In Mathe hat man nicht so viele Freiheiten, was die Formulierung angeht.«

Miss Collins räusperte sich und ging nicht weiter auf meine Mutter ein. »Wie dem auch sei. Mika hat abgeschrieben. Mich wundert jedoch, wie sie das gemacht hat.« Jetzt legten sich ihre hellen Augen wieder auf mich und ich musste schlucken. Ich wollte hier weg. Sofort. »Es ist nämlich so, dass Mika und Josie in der Klausur jeweils am anderen Ende des Raumes saßen.« Kaum hatte sie das gesagt, spürte ich den verblüfften Blick meiner Mutter auf mir. Was sollte ich nur sagen?Während ich verzweifelt über meinen Aufgaben gesessen hatte, sah ich plötzlich ein ganz anderes Blatt unter mir. Josie hatte bereits mit ihren Aufgaben angefangen und ihr Stift flog über das Papier, während sie nebenbei ihre Rechnungen in den Taschenrechner tippte. Das war mir ewig nicht mehr passiert. So lange nicht mehr, dass ich mittlerweile geglaubt hatte, dass ich es mir damals nur eingebildet hatte. Aber letzte Woche geschah es dann wieder. Und aus Verzweiflung hatte ich begonnen, Josies Ergebnisse abzuschreiben. Weshalb ich Josies Blatt genauso vor mir liegen sah, wie sie selbst, wusste ich doch auch nicht.

»Mika war in letzter Zeit viel mit Lernen beschäftigt.«, meinte meine Mutter und es war eine eiskalte Lüge. Für Mathe sah ich mir seit ein paar Jahren nicht mehr an, als das Nötigste. Es hatte ohnehin keinen Sinn. »An einigen Tagen hat sie sich auch mit ein paar Leuten getroffen, die ihr geholfen haben. Bestimmt war diese Josie auch dabei und Mika hat sich ihre Formulierungen angewöhnt.« Sie zuckte mit ihren Schultern. »Und vielleicht hat Josie ihr eine ähnliche Aufgabe erklärt, wie die, die in der Klausur dran kam und den selben Fehler gemacht, den Mika sich letztendlich abgeschaut hatte.« Am liebsten hätte ich mir jetzt die Hände vor das Gesicht geschlagen. Jetzt zog sie auch noch Josie mit hier rein. Was, wenn Miss Collins auf die Idee käme, Josie zu der Sache zu befragen? Die würde ganz sicher nicht für mich lügen. Wie ich sie kannte, würde sie ganz entsetzt sein, weil von ihr abgeschrieben worden war. Ich würde mir was von ihr anhören können.

ObscuraWhere stories live. Discover now