In Wills Armen brach ich in Tränen aus. Ich hatte gedacht, er würde mich hassen. Ich hatte gedacht, er würde nie wieder mit mir reden wollen. In mir brach ein Damm. All die Anspannung fiel von mir ab.
»Nicht weinen.«, flüsterte Will und hielt mich ganz fest. Ich sah ihn an, während die Tränen meine Sicht verschwimmen ließen. Er lächelte warm. Jetzt war ich nicht vom Pech verfolgt. Zumindest jetzt nicht. Also gab es doch noch Hoffnung.
»Geh jetzt schlafen.«, sagte er. »Morgen sehen wir uns wieder.«
»Es ist bereits morgen.«, sagte ich. Will grinste leicht. »Ich weiß.«
Noch einmal blickte ich zu ihm, dann lächelte ich. Er lächelte zurück. Und bei diesem Lächeln ging mir das Herz auf. Erleichterung spülte über mich hinweg, ließ mich ein erfreutes Hochgefühl verspüren. Es war nicht alles verloren.
»Schlaf gut.«, sagte er.
»Du auch.«, flüsterte ich und machte mich glücklich und leise auf den Weg zurück in mein Zimmer. Dort schlief ich dann auch schnell ein. Es war wunderbar zu wissen, dass Will mich nicht hasste, obwohl er nun wusste, dass ich getötet hatte. Ein schwerer Stein war von mir abgefallen. Allerdings waren da noch ein paar andere schwere Steine übrig, die mich zu erdrücken drohten. Morgen würde es vielleicht die ganze Schule wissen. Bei dem Gedanken verflog meine gute Stimmung und ihr folgte Übelkeit. Außerdem beschäftigte mich nun noch etwas anderes. Würde ich jemals meine leiblichen Eltern kennenlernen? Und wenn ja, wie würden sie auf mich reagieren? Vor allem, wenn sie es auch wussten?
Der nächste Morgen kam deutlich schneller, als mir lieb war. Der Wecker riss mich schrill aus dem Schlaf und ich stöhnte. Ich hatte geschlafen wie eine Tote. Aber ich hatte es wirklich gebraucht. In aller Ruhe stand ich gähnend auf. In Schlafklamotten reckte ich mich, ehe ich mit einem Blick auf die Uhr entsetzt feststellte, dass es bereits halb eins war. Ich hatte verschlafen! Und wie ich verschlafen hatte!
Schnell hastete ich durch mein Zimmer, zog mich in Rekordzeit um und rannte aus dem Turm. Auf dem Weg zum Speisesaal traf ich auf mehrere Schüler, die langsam und gemächlich zum Mittagessen liefen. So ein Gedrängel! Und ich hatte noch nicht mal gefrühstückt! Mein Magen meldete sich mit einem lauten Gebrummel. Doch ich schenkte ihm wenig Beachtung. Wie hatte ich nur so verschlafen können?
Leise fluchte ich. Plötzlich flimmerten alle anwesenden Schüler und wurden an die Wand geschoben. Sie alle rissen entsetzt die Augen auf und als sie mich erblickten, erstarrten sie. Wurden weiß wie die Wand. Ich konnte die Worte nicht verstehen, die sie flüsterten.
Ich rannte nun durch den freigewordenen Gang und platzte mitten ins Mittagessen. Schlagartig lagen die Blicke aller Anwesenden auf mir. Die Zeit schien stillzustehen. Alle hatten in ihrem Tun innegehalten und ihre Blicke verharrten bewegungslos auf mir. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen hören.
»Mörderin.« Dieses Wort. Schlagartig wurde mir eisig kalt. Ihre Lippen bewegten sich. Ich konnte sie nur entsetzt anstarren. Mir war es nicht möglich, mich zu bewegen. Zu einer Salzsäule erstarrt stand ich im Türrahmen.
Erneut. »Mörderin.« Immer und immer wieder. Es kam aus allen Ecken. Erfüllte den ganzen Raum. Unkontrolliert begann mein Körper zu zittern. Egal, in welches Gesicht ich blickte. Überall blickten mir ängstliche Blicke entgegen. Und hasserfüllte. Wie Gift drangen sie in mein Innerstes, raubten mir alle Kraft.
»Monster.« Obwohl die Stimme nur ganz leise war, stach sie doch aus allen hervor. Und das Schlimmste war, dass mir diese Stimme schmerzlich vertraut vorkam. Claire. Erneut lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Bitte nicht. Wieso? Wieso tat sie mir das an? Verräterisch sammelten sich die Tränen in meinen Augen, raubten mir die Sicht. Verhöhnten mich. Bewiesen meine Schwäche.
Zitternd suchte ich mit meinen Augen, durch die alle Umrisse verschwammen, die Halle nach Claire ab. Und dann fand ich sie. Seelenruhig aß sie ihre Pasta, während sie mich mit einem triumphierenden Blick bedachte. Wo war die entsetzte, ängstliche Claire von gestern hin? So selbstsicher und arrogant hatte ich sie noch nie gesehen. Ein höhnisches Grinsen stahl sich auf ihre Lippen. Was war bloß geschehen?
Ich bebte. Versuchte die Wut unter Kontrolle zu behalten, bei der Trauer versagte ich jedoch sofort kläglich. Mit einem Mal war es mir egal, dass ich bebte. Mir war nur eines klar und zwar, dass ich hier weg wollte. Ganz bewusst hatte sie mir das hier angetan. Sie hatte gewollt, dass mich alle hassten. Claire erfreute sich an dem Hass, den die anderen Schüler gegen mich richteten.
Wieso hasste diese Welt mich so sehr? Was hatte ich getan? Seit Damons Angriff im Wald ging es bergab. Und gerade jetzt, als ich geglaubt hatte, dass es für mich noch Hoffnung gab, bewies mir die Welt das Gegenteil.
»Verschwinde!«
»Du Monster!«
Einmal mehr atmete ich tief ein und aus. Beinahe von selbst ballten sich meine Hände zu Fäusten. Meine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in meine Handinnenfläche, doch ich bemerkte es kaum. Die ersten Tränen rollten über meine Wangen. Es war nicht mehr möglich, sie länger zurückzuhalten.
Sie hatte mich verraten. Verräterin! Mittlerweile war meine Sicht so verschwimmen, dass ich nur noch Schatten ausmachen konnte. Schattenartige Gestalten und verschwommene Farben. Ich war in eine Welt aus Wasserfarben getaucht.
Am Rande nahm ich zwei farbige Schatten wahr, die sich schnell auf mich zu bewegten. Und plötzlich konnte ich die Wut nicht mehr in mir verschließen. Wie Lava aus einem Vulkan schoss sie hervor, ihre Hitze erfüllte mein ganzes Sein. Infektiös breitete sie sich in mir aus, machte mich krank.
Wie konnte Claire das nur tun? Niemals hätte ich sie verraten! Ich hatte geglaubt, wir wären Freundinnen. Verdammt, ich hätte es für mich behalten sollen! Wieso konnte ich keine richtigen Freunde haben? War das so viel verlangt? Konnte man mir das nicht ein einziges Mal gönnen?
Die gewaltige Energie in mir, die sich ganz plötzlich in mir anstaute und immer mächtiger wurde, war nicht zu ignorieren. Sie wollte herausbrechen, wollte alles vernichten, was hier existierte.
Ich bebte. Meine Augen strahlten zornig. Sturmgrau wurde zu Tiefschwarz. Tränen wurden zu einem Schrei. Einem schrillen, schmerzenden Schrei. Ob aufgrund der Wut oder des Druckes der sich anstauenden Energie, wusste ich nicht.
Glas splitterte, tausende glitzernde Scherben prasselten wie ein Regenschauer auf die Schüler nieder. Die Schüler schrien vor Entsetzen.
Irgendwoher vernahm ich einen Ruf. »Mika!« Das war Will.
»Beruhige dich!« Ganz offensichtlich Damon.
Will hörte sich verzweifelt an, Damon entschlossen. Sah er es nun? Sah er die Finsternis in mir? Erfüllte ich nun seine Kriterien, um »bösartig« zu sein? Dass ich eine Gefahr für die Allgemeinheit war, konnte er nicht mehr länger leugnen. Oder gar hoffen, dass ich mich rechtzeitig unter Kontrolle bekam, bevor etwas Schlimmes passierte. Aber dafür war es ohnehin schon zu spät.
Immer noch waren die Schreie der Schüler zu vernehmen. Unter ihnen auch Schreie der Lehrer. In meinen Augen tobte die blinde Wut. Ich wollte sie alle leiden sehen. Vor allem Claire! Die Hitze verbrannte mich förmlich. Wollte aus mir heraus, damit ich endlich abkühlen konnte. Sie vernebelte meine Sinne und färbte trotz meiner schwarzen Augen alles rot.
»Mika, kontrolliere dich!«, Wills verzweifelter Ruf.
Wieder Glassplittern. Weitere entsetzte und ängstliche Schreie. Unter ihnen zu meiner Genugtuung auch Claire. Nun zerbarsten die Tische mit einem lauten Knall. Der Saal hatte sich schon längst mit schwarzen Nebelschwaden gefüllt, die aus mir zu kriechen schienen. Wie Tentakel bewegten sie sich umher, tasteten sich voran. Meine Augen hatte ich grinsend geschlossen. Ich ließ es einfach zu. Ließ zu, dass der Nebel die Schüler zum Schreien brachte. Ließ zu, dass er ihnen ungeheure Schmerzen zufügte. Ließ zu, dass sie litten. Ließ los. Sollten meine Fähigkeiten doch tun, was auch immer sie wollten. Wer konnte mich schon aufhalten?
Und ich genoss es. Genoss es in vollen Zügen. Es tat mir gut, das zu tun. Und es war mir egal, dass man mich jetzt ein Monster nennen würde. Es war mir alles egal.
Ich liebte es. Liebte diese Genugtuung, die ich während der Schmerzensschreie der Schüler empfand.
Auf einmal verfärbte sich der schwarze Nebel an einer Stelle feuerrot. Der Schüler, der in dem Stück feuerrotem Nebel war, kreischte aus Leibeskräften. Ein entsetzter, schriller, schmerzlicher Schrei. So laut, als wolle er Trommelfälle zum Bersten bringen. Und plötzlich verstummte er. Ein Körper fiel leblos wie eine Puppe zu Boden.
Mein Grinsen wurde breiter. Ich hatte es getan. Und ich bereute es kein Stückchen.