Kapitel 180 - Schnee

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Lilly

Die Seite war leer. Den Kugelschreiber klickte ich immer wieder auf und zu. Meine Therapeutin meinte in der letzten Sitzung zu mir, ich solle aufschreiben wie es mir die Feiertage über ging. Dann würden wir darüber reden, sobald die Therapie weiter ging. Nur ich hatte keine Ahnung. Ich wollte schreiben. Aber ich hatte keinen Plan. Wie sollte ich beschreiben, wie ich mich fühlte? Ich hatte einfach einen gewaltigen Druck auf der Brust, ansonsten war ich leer. Also klappte ich das Buch wieder zu, ohne eine Miene zu verziehen. Mein Kopf schwirrte, rauschte. Als würde ich jeden Moment umkippen. Das hatte ich seit Tagen und mittlerweile gewöhnte ich mich an dieses Gefühl in der Schwebe zu hängen. Mir war übel, obwohl ich nichts im Bauch hatte. Mein Magen knurrte nicht einmal mehr. Der Tee gestern, war das letzte was ich zu mir genommen hatte. Ich hatte keinen Hunger mehr. Ich spürte mich kaum noch. Manchmal dachte ich sogar, meine Haut würde sich bald auflösen, sich mit der Luft um mich herum vermischen. Ich fühlte es einfach nicht mehr, wo mein Körper anfing oder aufhörte. Ja, ich war dabei mich aufzulösen. Das war sicher. Automatisch nickte ich. Wie eine Gestörte, während ich an die Wand starrte. Draußen fiel Schnee. Andere freuten sich darüber, bauten ihren ersten Schneemann. Aber ich dachte immer nur daran, wie Alexa mich damals in den Schnee gedrückt hatte. Wie ich damals am Bahngleis stand und der Schnee das letzte war, was ich sehen wollte in diesem Leben. Ferngesteuert erhob ich mich und zog mich durch das Zimmer. Es war ein Wunder, dass mich meine Füße noch halten konnten. Ich lief raus und blieb erst im Garten hinter dem Haus stehen. Ich sah nur weiß. Das Rauschen in meinem Kopf wurde lauter. Schwäche übermannte mich und ich ließ mich nach vorne fallen. Der Schnee knirschte als ich hinein fiel. Kühl umhüllte er mich. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da lag. Es hätten Sekunden sein können, genauso gut aber auch Stunden. Obwohl ich sicher erfroren wäre, wäre es so lang gewesen. Mein Dad zog mich hoch.
Dumpf hörte ich, was er sagte.
>>Lilly, oh Gott, was machst du denn? Geht's dir gut?<<
Mit Leichtigkeit trug er mich wieder rein.
>>Was ist passiert?<< konnte ich meine Mum hören. Ich ließ meine Augen geschlossen.
>>Ich glaube sie ist ohnmächtig geworden, oder so.<< meinte Mein Dad.
Er verfrachtete mich ins Bad und stellte das heiße Wasser in der Wanne an.
>>Ich mache den Rest schon, ich kümmer mich schon.<< sagte Mum besorgt und schob Dad zur Tür raus. Sie schloss ab und fing an mir hastig die nassen Sachen auszuziehen. Im Spiegel konnte ich sehen, wie blau meine Haut angelaufen war. Zwischendurch nuschelte meine Mum immer wieder überfordert und traute sich kaum mich anzusehen. Dann setzte sie mich schließlich in die Badewanne und stützte meinen Kopf sanft.
>>Oh Kind.<< flüsterte sie und musterte meinen Körper. Sie lächelte, obwohl es in ihren Augen ganz anders aussah. Sie wollte mir Sicherheit geben. Nur für diesen einen Moment. Und das schaffte sie. Für ein paar Minuten fühlte ich mich geborgen. Fürsorglich wusch sie mich, spülte meine Haare mit Shampoo aus und wartete so lange, bis sich meine Haut wieder einigermaßen gesund färbte. Sie hob mich wieder raus aus der Badewanne und wickelte mich in einen frischen Bademantel ein. Gekonnt stopfte sie meine langen Haare in ein Handtuch und half mir ins Bett. Ich sagte nichts. Auch nicht als sie sich einfach neben mich legte und zusammen mit mir einschlief. Ich wollte mich entschuldigen. Bei allen. Nur ich wusste nicht, wie oder was ich sagen konnte. Andere Familien backten zu dieser Zeit zusammen Kekse oder packten Geschenke ein. Und wir? Wir machten halt das hier. Ich träumte. Viel zu schlecht. Viel zu real. Viel zu schmerzhaft.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt