Kapitel 157 - tell me the truth

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Lilly

Am nächsten Tag stieg ich gerade aus dem Bus aus und schulterte meine Tasche nochmal, als mein Handy klingelte. 
>>Harvey? Hey, wie geht's dir?<< begrüßte ich ihn fröhlich und lief die kleine Straße hoch zu Calebs Haus. 
>>Hey, was machst du gerade?<< fragte er bedrückt. 
>>Ich bin auf dem Weg zu Caleb, wir haben heute schulfrei. Und du?<<
>>Achso, okay. Dann lass uns später reden<< 
Mittlerweile stand ich auf Calebs Auffahrt.
>>Wieso? Nein, wir können auch jetzt reden. Alles okay? Du klingst nicht gut<< meinte ich verwirrt und machte mir wirklich Gedanken um ihn. Plötzlich fühlte sich die Entfernung zwischen uns gar nicht mehr gut an. Ich konnte seinen Atem kurz zittern hören.
>>Nein, ich will dich nicht aufhalten. Wir reden später<< sagte er kurz angebunden.
>>Warte, Harvey!<<
Doch er hatte mich schon weg gedrückt. Ich starrte mein Handy an. Noch einmal versuchte ich ihn anzurufen, doch er legte einfach auf. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Doch ich kannte Harvey gut genug. Er würde mit mir reden, sobald er es konnte. Also lief ich seufzend um das Haus herum. Die Terassentür stand ein kleines Stück offen,  ich würde Caleb mit meinem Besuch einfach überraschen. Ich schlich ins Haus und blieb in einem großen Raum stehen. Hier war ich noch nicht. Klar, die meiste Zeit hatte ich ja auch in seinem Bett verbracht. Ich musste schmunzeln und lief zur Tür, die in den Flur führte. 
>>Caleb?<< rief ich durchs Haus, doch ich bekam keine Antwort. Bevor ich zur Treppe gehen konnte, blieb mein Blick an einem Schreibtisch in einer Ecke hängen. Er wäre mir sonst sicher nicht aufgefallen, wenn nicht ein Riesenchaos darauf herrschen würde. Das sah Caleb überhaupt nicht ähnlich. Ich wollte die Papiere ein bisschen für ihn zusammen räumen, bis ich erkannte worum es überhaupt ging. Auf dem kompletten Tisch waren Ausdrucke über Depressionen, Suizid, Verhaltensstörungen und -muster und Borderline verteilt. Borderline, überall. Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige. Und vor allem alles über Borderline in einer Beziehung. Sogar Dinge, die ich selbst bis jetzt noch gar nicht gewusst hatte. Viele Zettel waren mit Textmarker markiert und zusammen geheftet. Fast als hätte Caleb versucht, die Krankheit irgendwie zu sortieren. Was natürlich vollkommen unmöglich war. Ich fand sogar einen Bericht über Anorexie und Bulimie. Sofort sprangen mir die Wörter 'Ana' und 'Mia' ins Auge, die beide mit zwei unterschiedlichen Farben markiert waren. Caleb hatte sich eine Notiz dazu an den Rand geschrieben: Halluzination, Lilly? Meine Augen wanderten weiter über mehrer Seiten, die sich mit dem Thema Selbstverletzung beschäftigten. Ich spürte, wie meine Finger und meine Oberlippe zuckte. Lilly, leg es weg! Befahl mir meine innere Stimme. Das ist ein zu großer Trigger. Das ist alles auf einmal. 
>Lilly, meine Süße...<< säuselte eine Stimme in mein Ohr. Ich spürte, wie etwas meine Arme streifte. Ana und Mia wirbelten um mich herum. Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Augenblicklich wurde mir schlecht und ich sah weg. Ich versuchte die Stimmen aus meinem Kopf zu sperren.
>Hast du uns vermisst?<
>>Oh nein!<< murmelte ich leise und wieder krallte ich meine Fingernägel in meinen Arm. 
>>Lilly?<< fragte Caleb hinter mir. Starr ließ ich den Zettel fallen und drehte mich zu ihm um. Er stand im Türrahmen, seine Haare waren nass und der Duft von Duschgel und Shampoo lag im Raum. 
>>Das solltest du gar nicht sehen<< sagte er, schob mich sanft zur Seite und fing an die Papiere weg zu räumen.
>>Nein, du...<< fing ich an und hielt ihn auf. Ich manövrierte ihn auf den Stuhl und setzte mich auf die Tischkante. 
>>Warum?<< war das einzige, was ich hervor bringen konnte. Ich fühlte mich auf ein mal nackt, als hätte Caleb einen viel zu tiefen Einblick in meinen Kopf bekommen. Als würde mein ganzes Gefühlschaos auf diesem Tisch liegen. 
>>Bist du mir böse?<< fragte er vorsichtig und schaute mich schief aus seinen blauen Augen an. 
>>Nein, ich...ich fühle mich nur...irgendwie entblößt. Als hättest du mein Tagebuch gelesen, nur noch viel schlimmer<< versuchte ich ihm zu erklären. Er schmunzelte.
>>Du schreibst Tagebuch?<< 
Ich sah zwischen ihm und den Unterlagen hin und her, ich fand das gar nicht so lustig. Er raufte sich die Haare und nahm sich einen Druck vom Tisch. Symptome und Verhaltensmuster bei Borderlinern in einer Beziehung. Ein Kloß stieg in mir auf. Er fuhr sich über die Lippe und sah dann wieder zu mir hoch. 
>>Ich wollte versuchen dich zu verstehen.<< gab er zu. 
>>Auch wenn ich jetzt noch mehr Fragen habe, als vorher.<< 
Er rieb sich die Schläfen, so als hätte er Kopfschmerzen. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Stunden er an diesem Schreibtisch mit diesem Zeug verbracht hatte. 
>>Dann frag mich. Ich werde versuchen dir zu erklären, wie ich mich fühle und warum ich manche Sachen vielleicht tu wie ich sie tu.<< sagte ich aufrichtig und wollte auf den Satz gucken, den er sich gerade zum dritten mal durch las. 
>>Okay...also hier steht, dass Borderliner eine Beziehung oft durch Intimitäten definieren.<< 
Seine Augen lagen suchend auf meinen. Ich wusste genau, worauf er hinaus wollte. Ich hatte Angst vor seiner Frage. Ich hatte Angst vor meinen Gedanken.
>>Wir hatten Sex. Es war dein erstes Mal...<< 
Seine Augen waren so blau und sahen mich so liebevoll an. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, auch wenn Tränen in mir aufstiegen. 
>>Hattest du das Gefühl, du musstest mit mir schlafen? Damit ich dich nicht verlasse?<< 
Ich wusste, dass er die Antwort doch schon kannte. Und ich kannte sie auch. Er ergriff meine Hand als eine Träne über mein Gesicht lief.
>>Benutz deinen Körper nie wieder so für mich. Ich liebe dich. Und so lange du mir nicht sagst, dass ich verschwinden soll, werde ich dich nicht verlassen. Hörst du?<< sagte er.
Ich nickte und lächelte. 
>>Kann ich auch Fragen stellen?<< fragte ich ihn dann und wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht.
>>Ähm, ja...klar<<
Ich langte über den Tisch und hielt ihn den Zettel mit der Magersucht vors Gesicht. Den, mit seiner Randnotiz.
>>Ana und Mia?<< gab ich ihm einen Anhaltspunkt. Er holte Luft und sortierte sich selbst.
>>Als du gerade ein paar Tage bei uns in der Klasse warst, da habe ich es bemerkt. Du hast nie gegessen, warst damals schon sehr dünn. Ich hab es gesehen, obwohl du immer so weite Klamotten getragen hast. Naja und das ganze Übergeben und so. Manchmal hatte ich das Gefühl, du würdest Selbstgespräche führen ohne wirklich zu reden. Du hattest Halluzinationen von diesen beiden Mädchen oder?<< 
>>Ja. Ja, hab ich<<
>>Und seit wann siehst du sie nicht mehr?<<
Ich sog die Luft ein als mir ein Licht aufging. 
>>Als ich angefangen habe Drogen zu nehmen, als ich süchtig geworden bin<<
Caleb nickte wissend.
>>Hast du deswegen weiter die Drogen genommen? Weil du dann allein in deinem Kopf warst?<< 
Erschrocken sah ich ihn an. Als würde er mich besser kennen als ich mich selbst. Über Borderline zu sprechen, half nicht nur den Angehörigen es zu verstehen, sondern brachte auch den Betroffenen mehr Klarheit. 
>>Der Rausch hat sich befreiend für dich angefühlt... Die Drogen hast du von Nick bekommen. Warst du deswegen immer bei ihm? Weil er dir helfen konnte?<< 
Als würde Caleb meine eigenen Fragen beantworten. 
>>Ich denke auch, ja<< gab ich zu.
>>Du liebst ihn oder?<<
>>Was?<< 
>>Du liebst ihn dafür, dass er dich von den beiden befreit hat.<<
Langsam nickte ich. Caleb schluckte. Doch er regte sich nicht auf. Er war nicht traurig oder enttäuscht von mir. Er half mir einfach nur, mich selbst besser zu verstehen. Er war da.
>>Caleb, ich liebe dich. Mehr als ihn. Er ist mir nicht mehr wichtig<< versuchte ich ihm klar zu machen.
>>Ich weiß, aber du bist ihm wichtig<<
>>Das ist egal, ich bekomm das schon geregelt mit ihm<< 
>>Und was ist, wenn er wieder versucht dich zu vergewaltigen? Wenn er es diesmal schafft? Würdest du dich wehren? Oder würdest du ihn machen lassen, weil du denkst du schuldest ihm was?<< fragte er. Jetzt war er traurig.
>>Was? Nein. Nein! Niemals würde ich das denken. Und er wird es nicht wieder versuchen. Ich hab gestern lange in der Therapie darüber geredet und meine Psychologin hat auch gesagt ich brauche mir in die Richtung keine Sorgen mehr machen. Caleb, vertrau mir.<< sagte ich und wollte, dass er mich ansah.
>>Ich vertraue dir, aber ihm nicht. Ich schwöre bei Gott, wenn er dir irgendwas antut, dich nochmal so anfasst, dann-<<
Ich unterbrach ihn.
>>Caleb! Das wird nicht passieren. Ich gehöre nur dir. Kein anderer wird mich je wieder so berühren!<< 
Ich hielt sein Gesicht in meinen Händen. Er atmete erleichtert aus.
>>Ich liebe dich.<< sagte ich betont und drückte ihm tausend Küsse auf die Lippen. 
>>Ich liebe dich mehr<<
Ich sprang auf und mahnte ihm mit dem Zeigefinger.
>>Nein, sowas darfst du nicht sagen! Das triggert mich nur und macht mich wütend oder traurig und ich bekomme Angst<< 
>>Achja?<< Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. 
>>Ja, allgemein darfst du mich nicht wütend machen. Dann fühlt es sich für mich an, als...als würde ich die Kontrolle verlieren.<<
Er nickte wieder.
>>Ja, darüber hab ich auch gelesen. Es ist schwierig für dich, wenn jemand anderes über dich entscheidet. Du musst mir ab sofort also sagen, wenn du dich zu sehr in die Enge getrieben fühlst. Da weiß ich noch nicht ganz, wie ich mit dir umgehen soll<<
>>Bis jetzt warst du tatsächlich der einzige, von dem ich mich nicht so sehr bedrängt gefühlt habe<< sagte ich.
Bei ihm fühlte ich mich wohl und ich wusste, wir könnten alles miteinander klären. Wir mussten uns nie weh tun. 
>>Gibt es sonst etwas, mit dem du dich unsicher fühlst? Ich will nicht, dass du dich irgendwie unwohl bei mir fühlst<< 
Konnte dieser Typ Gedanken lesen? Ein bisschen grimmig sah ich ihn über den Raum aus an. Er grinste. Ich setzte mich auf den weichen Teppich vor ihn. 
>>Schon, da gibt es echt was, was mich schon länger beschäftigt.<< schnitt ich an und mein Blick wanderte aus Versehen in Richtung seines Schritts. Ich lief rot an als er anfing zu lachen. 
>>Lilly, du kannst mich ruhig alles fragen<< sagte er amüsiert und ermutigte mich zum Reden. Ich knabberte mir auf der Lippe herum.
>>Wie viele Freundinnen hattest du vor mir?<< 
Prüfend musterte er mich. 
>>Zwei. Mit meiner ersten Freundin war ich fast zwei Jahre zusammen und dann gab es ja noch Alexa. Das war ja nichts wirkliches.<< 
Er war ernst und wartete auf meine nächste Frage.
>>Und hast du mit beiden geschlafen?<< fragte ich dann und verzog den Mund bei dem Gedanken, Alexa könnte ihn so berührt haben wie ich ihn berührt habe. 
>>Ja, habe ich.<< 
Ich sah runter auf meine Hände. 
>>Wie alt warst du, als du dein erstes Mal hattest?<< 
Er war konzentriert und versuchte fieberhaft heraus zu finden, was ich wollte.
>>Ich war 16<<
Ich nickte. Das war okay. Und er hatte es bestimmt mit einer, die ihm wichtig war.
>>Wer war sie denn?<< fragte ich etwas neugieriger. Sein Kiefer spannte sich kurz an.
>>Lilly, meine erste Freundin war Charlotte.<< 
>>Was?<< platzte es aus mir heraus. Erst Charlotte und dann Alexa. Die Bitches und mit die hübschesten Mädchen die ich kannte.
>>Warum hast du mit Charlotte Schluss gemacht?<<
>>Wer sagt, dass ich derjenige war, der Schluss gemach hat?<< sagte er und sah mich eindringlich an.
>>Oh...<< machte ich.
>>Sie hat mich betrogen, deshalb ist es aus gewesen<<
>>Oh.<< machte ich wieder, als könnte ich gar nichts anderes mehr sagen. 
>>Und dann dachtest du, du datest einfach mal ihre beste Freundin. So aus Rache?<< 
Er lachte und ich kam mir blöd vor.
>>Nein, pass auf. Lilly, Charlotte und ich sind mittlerweile gute Freunde. Auf Dauer passten wir einfach nicht zusammen. Sie ist aber echt okay<< 
>>Und wie ist das dann mit Alexa passiert?<< 
>>Das ist auf einer Party einfach so gekommen. Wir sind ein paar mal ausgegangen, aber dann war es auch schon vorbei.<< erzählte er Schultern zuckend.
>>War ja klar, dass sie mit dir geschlafen hat<< sagte ich. >>Bitch<< murmelte ich schnippisch.
>>Lilly!<< ermahnte mich Caleb.
>>Es war für sie das erste Mal<< machte er mir klar. Meine Kinnlade klappte herunter.
>>Du hast sie entjungfert?!<< warf ich ihm schon fast vor. Er nickte nur. 
>>Oh mein Gott, deswegen hasst sie mich so sehr. Weil sie besessen ist von dir, weil sie dich nicht haben kann<< setzte ich eins und eins zusammen, doch Caleb schüttelte nur den Kopf. 
>>Es ist ganz anders.<<
>>Wie ist es denn?<< fragte ich empört. 
>>Das kann ich dir nicht sagen, ich hab es ihr versprochen<< meinte er nur und schon war er meinem fassungslosem Gesichtsausdruck ausgesetzt. Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Er nahm meine Hände und schob meinen Mund wieder zu.
>>Es hat ihr und mir nichts bedeutet. Es war nichts besonderes. Wir hatten keinerlei Gefühle füreinander, zumindest nichts romantisches. Die einzige, mit der ich zusammen sein will, bist du. Okay?<< 
Ich nickte widerwillig.
>>War der Sex besser als der mit mir?<< 
Verständnislos starrte er mich an.
>>Was? Nein! Der Sex mit dir war besser, als jeder Sex den ich sonst hatte<< versicherte er mir und grinste.
Ich lächelte siegessicher und schützte mich an ihm hoch. Langsam kam ich nach oben und setzte mich auf seinen Schoß. Ich küsste ihn sanft. Für heute hatten wir genug geredet.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt