Kapitel 121 - six pages

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Lilly

Ich beendete gerade den letzten Satz und sah mir dann den Eintrag in meinem Tagebuch an. Es war ein Sonntag. Vor einer Woche hatte Harvey uns gesagt, dass er entlassen werden würde. Er war gerade in den letzten Zügen seiner stationären Therapie und hatte viel Papierkram zu erledigen und Anrufe zu tätigen. Auch jetzt war er gerade in einem weiteren Beratungsgespräch mit seinem Therapeuten. Chrissy war gerade bei ihrer Untersuchung und Gewichtsüberprüfung? Tja, und was tat ich? Ich hatte meine Untersuchung bereits vor zwei Stunden, dann war ich im Gebäude herum gelaufen und hatte jetzt diesen Eintrag geschrieben, weil ich bis zum Abendessen eh nichts anderes zu tun hatte. In Gedanken blätterte ich durch mein Tagebuch. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass ich anhand meiner Einträge sehen konnte wie es mir ging. Allein die Art meiner Schrift, die sich immer ein wenig änderte, verriet in welcher Episode meiner Persönlichkeitsstörung ich mich befunden hatte. Ich schluckte schwer als mir abermals bewusst wurde, wie verrückt meine Gedanken manchmal spielten. Ich hatte noch sechs Seiten übrig. Ich stockte. Seit Beginn meines Klinikaufenthalts hatte ich jeden Tag geschrieben. Was sollte ich denn machen, wenn das Buch voll war? Würde ich ein neues bekommen? Oder wie lief das hier? Mein Magen flatterte. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl was diese nächsten sechs Tage anging und vor allem die danach. Mein Blick wanderte unbewusst zu meinen Unterarmen. Meine Wunden waren verheilt, doch die dicken weißen Narben würden mir für immer bleiben. Sie würden mich für immer daran erinnern, was mich dazu getrieben hatte sie mir zuzufügen. Ich kreischte kurz als zwei kalte, kleine Hände mir die Augen zuhielten. 
>>Gehst du mit mir lesen?<<
fragte Chrissy so, dass ich einfach nicht widerstehen konnte als sie die Arme von hinten um mich legte. Ich klappte mein Tagebuch zu und klemmte mir meine Wolldecke zusammen mit meinem Lieblingsbuch unter den Arm. 
>>Gemeinschaftsraum?<<
harkte sie nach als sie ihre Decke vom Boden aufhob und mich erwartungsvoll anschaute. Ich nickte grinsend und folgte ihrem Gänsemarsch durch den Flur. Wenig später saßen wir in unsere Decken gewickelt, auf großen Kissen in der hintersten Ecke des Gemeinschaftsraum und lasen nebeneinander unsere Bücher.
Und jetzt gerade war ich absolut zufrieden und ruhig. Ich wünschte es könnte immer so sein.
Doch so war das Leben einfach nicht.
Ich genoß einfach jeden Augenblick, wie diesen, bevor das Chaos erneut ausbrechen würde.
>>Leute?<< hörte man Harvey von der anderen Seite des Raumes flüstern. Er suchte nach uns.
>>Hier sind Wir!<< flüsterte Chrissy zurück und winkte. Er kam durch den Raum geschlichen und setzte sich leise zu uns.
>>Könnt ihr mir helfen? Ich muss noch ein paar Papiere durch gehen und wollte schonmal ein paar Sachen zusammen packen <<
Chrissy sah kurz zu mir und sprang dann auf.
>>Na klar.<<
Ja, wahrscheinlich war es gut dass er jetzt schon anfangen wollte zu packen. Schließlich hatte er eine Menge Zeug in seinen sechs Monaten hier angeschleppt. Bei dem Gedanken musste ich kurz lachen, suchte meine Sachen zusammen und flitzte hinter den beiden her.
Eine halbe Stunde später wühlte sich Chrissy durch Harveys Klamotten und er und ich saßen auf dem Boden, um uns herum tausend Papiere. Das einzige was ich tat, war im Großen und Ganzen, seine Dokumente zu fotografieren und zu kopieren.
"Zur Sicherheit" hatte er gemeint. Ich stockte als mir sechs Seiten in die Hände fielen. Seine zusätzliche und endgültige Diagnose, sowie einer Überweisung an einen Psychologen, der ihn außerhalb der Klinik betreuen würde. Ich wollte die Papiere nicht zu genau mustern. Offensichtlich wollte Harvey ja nicht, dass wir mehr über seine Diagnose wussten, sonst hätte er es uns erzählt. Das einzige was ich flüchtig lesen konnten war, dass er eine Angststörung hat, die zu Wahrnehmungsstörungen führen. Er hat Panikattacken und Depressionen, ist aber seit 23 Wochen nicht mehr suizidgefährdet. Kurz huschten meine Augen zu Harvey rüber. Seine weißen Haare strahlten im Sonnenlicht, er war trainiert. Ironisch, dass er trotzdem nicht stark genug war. Manchmal war er nicht stark genug sich selbst zu ertragen. Und das kannte ich nur zu gut. Schnell schaute ich weg und kopierte die Dokumente als er mich ansah. Ich würde für mich behalten, was ich gelesen hatte. Er konnte mir vertrauen.
>>Harvey!<< grummelte Chrissy und krabbelte aus dem Klamottenhaufen, um ihn vorwurfsvoll anzugucken.
>>Du hast mehr Sachen als Ich!<<
Harvey lachte, stand auf und half ihr die Stapel zu sortieren. Ich fotografierte derweil seinen Entlassungsantrag. Nebenbei fiel mir auf, dass er ihn noch nicht unterzeichnet hatte. Ich wollte erst was sagen, doch entschied mich dann doch dagegen. Wahrscheinlich war es eh nicht der Rede wert. Verträumt musterte ich nur den Stempel der Klinik und wünschte mir irgendwie ich würde meinen Antrag auch bereits in den Händen halten.
>>Bald haben wir alle so einen<< sagte Chrissy zufrieden und stopfte Harveys Jeans in eine Tasche.
Bald. Wann ist dieses 'Bald denn? Morgen? In drei Wochen? Oder vielleicht doch erst in ein paar Monaten? Zitternd legte ich die letzten Papiere zusammen und drückte sie Harvey entgegen.
>>Hiermit entlasse ich Sie, Mister Harvey James Hepburn <<
>>Habe Dank, schöne Frau<< sagte er, verbeugte sich kurz und nahm die Blätter dann an sich. Ich lächelte nachdenklich. Bis eine Betreuerin zur Tür rein kam.
>>Okay Leute, ich muss zur Therapie<< verkündete ich und ließ die beiden in dem Haufen, unter dem irgendwo Harveys Zimmer war.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt