Kapitel 183 - Durchschlafen

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Lilly

* trigger Warnung*

Ich hatte nie darüber nach gedacht, wie ich sterben würde. Wie ich sterben wollte. Bis heute. Es ist schwierig zu beschreiben, wie es sich anfühlt sterben zu wollen. Sowas kommt nicht von heute auf morgen. Der Wunsch zu sterben schleicht sich langsam und leise in dein Herz und zerstört auf dem Weg alles andere. Alles andere, dass dich noch aufhalten könnte. Sich zu wünschen, dass man stirbt, tut weh. Es ist anstrengend, sich am leben zu halten, obwohl man es nicht mehr will. Leichter zu beschreiben ist es, wie sich der Moment anfühlt, indem man sich für den Tod entscheidet. Der Druck auf deiner Brust, lässt endlich nach. Kurz kann man endlich wieder durch atmen. Deine Gedanken sind plötzlich sortiert, du weißt genau was du zu tun hast und wie du es zu tun hast. Du schließt ab und es fühlt sich gut an. Man wird ganz ruhig. 
Sterben ist leicht, zu leben ist schwerer. 
Gegen 11 Uhr mittags schälte ich mich aus dem Bett. Meine Augen taten weh, meine Füße und Hände waren kalt. Unten machte ich mir einen Tee. Eigentlich nur, um meine Hände ein wenig zu beschäftigen. Ich hatte einen straffen Zeitplan und ich war schon etwas verspätet dran. Meine Mum war gerade an ihrem letzten Artikel für dieses Jahr. Mein Dad war in die Stadt gefahren, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Ich trank meinen Tee aus und holte dann eben die Christbaumkugeln aus dem Keller. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, klopfte ich an den Türrahmen im Wohnzimmer. Meine Mutter drehte sich fragend zu mir um. 
>>Mum, ich fahre nochmal eben zu einem Freund, ich muss ihm noch was vorbei bringen.<< erklärte ich ihr und war schon dabei meine Jacke anzuziehen.
>>Fährst du zu Caleb?<< fragte sie laut. Ich zuckte unmerklich zusammen, sein Name traf mich unerwartet. 
>>Nein. Nein, tu ich nicht.<< sagte ich nur und schüttelte die Gedanken an ihn ab. Gerade so konnte ich noch verhindern, dass sich sein Blick wieder in meinen Kopf brannte. 
>>Achso...okay. Viel Spaß und sei vorsichtig!<< rief sie mir zu und schon war ich aus der Tür raus. In letzter Sekunde erreichte ich den Bus und schwer atmend ließ ich mich auf einen Platz fallen. Chris Haus war nicht weit weg, nur wusste ich nicht ob er auch zu Hause war. Aber andersherum, wo sollte er sonst sein? Es dauerte eine Weile, bis er die Tür aufmachte. Überrascht sah er mich an. 
>>Lilly? Was machst du hier?<< fragte er und trat schon einen Schritt zur Seite, damit ich rein kommen konnte. 
>>Sind deine Eltern gar nicht da?<< 
Meine Frage hallte durch das große Wohnzimmer, während ich meine Jacke neben mich auf das Sofa legte.
>>Ähm, nein. Nein, mein Dad ist noch auf der Arbeit und meine Mum ist einkaufen.<< 
Verwirrt setzte er sich mir gegenüber und musterte mich aufmerksam. Ich musste grauenhaft aussehen. Meine Stimme wurde plötzlich brüchig und ich wusste gar nicht mehr so richtig, was ich von ihm erwartete.
>>Ich weiß, ich sehe schlimm aus.<< flüsterte ich und sah weg. Chris blieb still. Dann hörte ich, wie er einen tiefen Atemzug nahm. Er legte einen Finger an mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. 
>>Wie geht's dir? Kann ich dir irgendwie helfen?<< Er hatte die Stirn in Falten gelegt und war nachdenklich.
Sofort wusste ich, wie ich weiter machen musste. Was ich sagen musste, um von ihm zu bekommen, was ich brauchte. Ich nahm seine Finger von meinem Gesicht weg und schloss seine Hand dann in meine. 
>>Ich habe die letzten Wochen immer wieder von Harvey geträumt...<< setzte ich an. Es tat mir weh, seinen Namen zu sagen. Ich hatte es lange nicht mehr getan. Chris schluckte und streichelte sanft meine Hand. Ich ließ ein paar Tränen freien Lauf und sah ihm in die Augen.
>>Ich kann nicht mehr schlafen.<< presste ich gequält über meine Lippen. Er legte seinen Kopf schief, ich konnte das Mitleid in seinem Gesicht sehen. 
>>Oh Lilly, es tut mir so leid.<< sagte er leise und überlegte. Ich drückte seine Hand fester, suchte seinen Blick und hielt ihn fest. Ich zwang ihm meinen Schmerz auf.
>>Chris...<< hauchte ich flehend. Ich rutschte von der Couch runter, kniete vor ihm und krallte mich an sein Shirt.
>>Bitte, du musst mir helfen. Ich will nur ein paar Nächte wieder schlafen können.<< 
Chris strich mir die Haare aus dem Gesicht und schaute mich fest an. Seine Augen schnellten hin und her, als würde er zwischen zwei Gedanken stehen. 
>>Ich weiß nicht Lilly. Ich weiß einfach nicht...<< murmelte er und löste sich etwas von mir. Ich schluchzte und sein Blick wurde wieder aufmerksam.
>>Bitte.<< krächzte ich. Er schluckte und seufzte. Plötzlich ging alles schnell.
>>Okay, warte hier.<< flüsterte er und verschwand aus dem Wohnzimmer. Ich raffte mich wieder auf und zog mich auf die Beine. Ich strich mir durchs Gesicht und nahm meine Jacke. Sekunden später, kam Chris wieder rein.
In seiner Hand ein Döschen. 
>>Hier.<< sagte er. >>Das sind Schlaftabletten. Die sind etwas stärker, also brauchst du immer nur eine. Nimm sie vor dem Schlafen gehen, innerhalb von einer halben Stunde solltest du dann müde werden.<< erklärte er.
>>Danke.<< 
Ich wollte nach der Dose greifen, doch er zögerte noch kurz. 
>>Nur eine!<< warnte er mich. Angst zuckte über sein Gesicht. Ich lächelte ihn beruhigend an.
>>Nur eine.<< wiederholte ich ruhig und schloss meine Hände endlich um die Schlaftabletten. Zaghaft drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange.
>>Danke, für alles.<< flüsterte ich und sah ihn ein letztes Mal richtig an. Prägte mir sein Gesicht nochmal ein. So wie Harvey und Caleb, Milla, alle.
>>Klar, melde dich wenn was sein sollte.<< 
Er begleitete mich zur Tür.
>>Ach und Lilly?<< meinte er noch und ich drehte mich noch mal um. 
>>Ja, Chris?<< 
>>Frohe Weihnachten<< 
Gerührt lächelte ich schnell.
>>Frohe Weihnachten<< gab ich zurück und ging los. Die Dose steckte ich in meine Jackentasche und umklammerte sie so fest, als würde mein Leben davon abhängen. Zuhause stellte ich sie in die Schublade von meinem Nachttisch und atmete einmal tief durch.
Das hatten wir also.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt