Kapitel 156 - Nick

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Lilly

Genau 28 Stunden später saß ich bei meiner Therapeutin auf einem Stuhl. Ihre nächste Patientin hatte abgesagt, weshalb sie mir gestern Abend eine verlängerte Sitzung angeboten hatte, nachdem ich sie panisch angerufen hatte. Ich wollte über Nick sprechen, alles loswerden und hoffen, dass sie mir helfen konnte alles endlich zu verarbeiten. Ich wollte es durchziehen. Auch wenn es gerade jetzt schwerer war als ich gedacht hatte. Schon eine halbe Stunde hatten wir damit zu gebracht, bis sie endlich im Groben wusste worauf ich hinaus wollte. Und es lagen immer noch eineinhalb Stunden vor mir. Gerade jetzt wusste ich nicht, ob ich das so lange aushalten würde. Nick hatte mir doch mehr zugesetzt als gedacht und das Caleb mich seitdem eher gemieden hatte, trug dem eher nichts positives bei. 
>>Nick war der erste, dem ich von meiner Essstörung erzählt habe und dem Schneiden.<< sagte ich ganz benommen und hatte mich auf dem Stuhl weit zurück gelehnt. 
>>Und wie hat er reagiert?<< 
Sie hatte ihren Schreibblock und den Stift zur Seite gelegt. Sie wusste, dass dieses Gespräch hier ernst werden würde und es mir noch mehr Angst machte, wenn sie die ganze Zeit mit schrieb. 
Ich lachte nervös, bevor mein Gesicht wieder starr wurde. 
>>Ich hab mich vor ihm übergeben, nachdem er bescheid wusste. Weil ich so Angst hatte<< fing ich an und unterbrach mich selbst.
Wollte ich das hier wirklich erzählen? Mit dem Risiko, Nick vielleicht in Schwierigkeiten zu bringen? Meine Augen wanderten in der Leere schnell hin und her, als wollte ich meine Möglichkeiten abwägen.
Aber es war egal, hier ging es nicht um Nick. Es ging um mich, darum dass ich mich endlich besser fühlen konnte und mit der Vergangenheit abschließen konnte.
Also holte ich tief Luft und erzählte weiter. 
>>Er hat sich entschuldigt und meinte, er könnte das nicht. Dann ist er gegangen und hat mich allein gelassen<<
Ich schluckte und sah meine Therapeutin langsam an. 
>>Ich denke, er war vielleicht einfach hilflos in dem Moment. Er musste es sicher nur verarbeiten<< ermutigte sie mich ruhig.
Ein trauriges Lachen kam aus meiner Kehle und ich versuchte meine Emotionen im Zaum zu halten. Ich nickte.
>>Ja, das dachte ich zuerst auch...<<
>>Wieso zuerst? Was ist denn danach passiert?<< 
Ich stand auf und lief durch den kleinen Raum zu den beiden Sofas. Ich kauerte mich in eine Ecke von der Couch und wartete, bis sie sich auf das andere Sofa mir gegenüber gesetzt hatte. 
>>Er...Einen oder ein paar Tage später, ich weiß es gar nicht mehr genau, tauchte er dann plötzlich bei mir zuhause auf. Er hat sich entschuldigt, dass er mich allein gelassen hat und er sagte, er wolle alles wieder gut machen-<< 
Meine Stimme stockte. Langsam klammerte ich meine Hände um meinen Oberkörper. Als wollte ich mich selbst davon abhalten, zu zerbrechen. 
>>Lass dir ruhig Zeit. Alles was du sagst, ist hier vollkommen sicher<< versicherte sie mir nochmal und wartete geduldig. Als ich weiter redete, brach meine Stimme und ich wurde immer schneller.
Als könnte ich alles von mir weg schieben, wenn ich es nur schnell genug herunter ratterte.
Ich hätte es längst besser wissen müssen. 
>>Er hat mich geküsst, mich immer weiter zum Bett gedrängt. Er lag so schwer auf mir, ich konnte mich nicht bewegen. Er hat mir meine Klamotten ausgezogen und mich immer weiter fest gehalten. Er wollte...Er wollte-<< 
Laut schnappte ich nach Luft, meine aufgerissenen Augen brannten und mein Körper krümmte sich. 
>>Lilly, du bist vollkommen sicher. Alles ist gut. Du musst immer weiter atmen, ganz ruhig<< leitete sie mich ruhig an.
Alles ist gut. Das ist vorbei.
Nach ein paar Minuten brachte ich es fertig, mich ein wenig zu entspannen und sie anzusehen. 
>>Ich konnte ihn von mir runter schieben. Ich hab ihn angeschrien. So lange, bis er seine Sachen genommen hat und verschwunden ist<< 
Sie sagte gar nichts, sondern ließ mich reden, so lange ich wollte. 
>>Am nächsten Tag, hat er mir im Schulflur dann die Ärmel vom Pulli hochgezogen und mich vor allen bloß gestellt. Ab da war ich dann als Psycho abgestempelt<< 
Sie atmete ein und aus und ich konnte ihr ansehen, dass es nicht das erste mal war, dass sie sowas hörte. 
>>Hat er danach denn wieder versucht dich zu irgendwas zu drängen, was du nicht wolltest?<< 
>>Schon, ja<< 
Ich runzelte die Stirn und dachte konzentriert darüber nach, wie ich ihr die nächsten Monate erklären sollte.
Wie ich ihr den Verlauf unserer Freundschaft erklären sollte und warum es gestern zu diesem Streit gekommen war. 
>>Irgendwie hab ich mich mit seinen Freunden angefreundet. Zuerst nicht beabsichtigt mit ihm, aber er gehört halt mit zu der Gruppe, also...<< begann ich und sie nickte, als Zeichen dass sie mir folgen konnte.
>>Als wir dann auf Klassenfahrt waren, fing es dann so langsam an. Zuerst hat er mich dazu gedrängt zu essen, weil ich es die ganze Zeit nicht getan hatte. Dan hat er mich gezwungen mit ihm Drogen zu nehmen<<
>>Gezwungen?<<
>>Ja, er...er hat es immer geschafft so auf mich einzureden, dass ich alles gemacht habe was er wollte<< 
>>Und haben seine Freunde nicht versucht ihn aufzuhalten?<<
Ich überlegte kurz und ließ die Klassenfahrt Revue passieren.
>>Sie steckten entweder mit drin, oder hatten einfach zu großen Respekt vor ihm als das sie sich getraut hätten, sich gegen ihn zu stellen<< 
Sie nickte. Den Rest erzählte ich ihr vollkommen ruhig und gelassen. Von meinem Entzug mit den Jungs zusammen, über meinen Rückfall und wie ich dadurch in der Klinik gelandet war, bis zu dem Streit gestern. 
>>Kann es sein, dass er etwas für dich empfindet? Dass er verliebt in dich ist?<< sagte sie dann. Schockiert sah ich sie an. War es so offensichtlich?
>>Er ist manipulativ und rachsüchtig und braucht über alles die Kontrolle. Vor allem über Dinge, die er liebt. Deswegen war er so eindringlich, was dich angeht. Ich weiß nicht, was diese Sucht bei ihm ausgelöst hat, aber meistens ist es auf die Kindheit und das Elternhaus zurück zu führen.<< 
Sie ging kurz zum Tisch zurück und holte den Schreibblock. Das erste mal, dass sie sich heute ein paar Notizen machte. 
>>Wieso war er dann, bis gestern, plötzlich so nett zu mir.<< fragte ich sie verständnislos. 
>>Weil er dich plötzlich an jemand anderes verloren hat, das hat sein Verhalten geändert.<< 
Ich sah weg und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Nick war nett zu mir geworden, ab dem Moment wo Caleb endgültig zurück war. Ab dem Moment, als er wusste, was ich für Caleb empfand. Kurz nach meinem Entzug musste es ihm klar geworden sein. Mir kam dieser eine Nachmittag ins Gedächtnis. Als Caleb auf den Busbahnhof kam und Nick mich vor ihm schützen wollte.
Der eine Moment, an dem ich Nick Caleb vorgezogen hatte. Weil er mich kurz davon überzeugt hatte, Caleb sei gefährlich. Gefährlicher als er. 
>>Der Streit gestern, das was er zu dir gesagt hat, das wurde ausgelöst durch das Erlebnis im Club. Er hat gesehen, wie du mit Caleb gegangen bist. Ein Zeichen, dass er dich verloren hatte. Und der Streit war sein Versuch, einen Teil von dir zurück zu gewinnen.<< erklärte sie mir weiter.
>>Zurück zu gewinnen? Indem er mich beleidigt?<< kam es spöttisch aus mir heraus. 
>>Naja eher, dich wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Auch wenn er eigentlich wusste, dass es dafür zu spät ist<<
>>Also sagen sie mir, dass er gefährlich ist<< versuchte ich ihren Satz zu beenden.
Ein paar Sekunden musterte sie mich aufmerksam, bevor sie antwortete.
>>Nein. Er empfindet zu viel für dich, als dass er dir je wirklich hätte weh tun können.<<
Fassungslos starrte ich sie an. War das ihr Ernst? Als hätte mir Nick nicht schon genug angetan. 
>>Ich will dir damit nur sagen, dass er viel durch gemacht hat. Genauso wie du.<< 
>>Und ich soll ihm das alles jetzt einfach verzeihen?<< fragte ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Sie schüttelte den Kopf.
>>Nein. Nein, das musst du nicht. Aber vielleicht solltest du das irgendwann. So kann er sich vielleicht selbst verzeihen. Er ist auf einem sehr guten Weg und macht sehr schnell, sehr große Fortschritte. Genau wie du im Moment. Und ich denke einfach, dass da vieles ist, was ihr miteinander klären müsst<< 
Ich nickte langsam. Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass unsere Sitzung in zehn Minuten vorbei war. 
>>Als Nick dich damals so bedrängt hat, hast du dich zur Wehr gesetzt. Du hast dich selbst aus einer zerstörerischen Lage befreit, ohne Hilfe. Und darauf kannst du wirklich stolz sein. Du hast heute viel gelernt.<< beendete sie die Sitzung und machte einen Strich unter ihre Notizen.
Ich trank mein Glas Wasser auf dem Tisch aus, plötzlich hatte ich irrsinnig Kopfschmerzen. 
>>Viel Spaß an deinem freien Tag morgen<< sagte sie und verabschiedete sich als ich den Flur runter ging. Ich war gerade so froh darüber, dass morgen die Schule für uns ausfiel, wegen einer Lehrerbesprechung.
Ich wusste genau, was ich morgen tun würde.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt