Kapitel 144 - Hey

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Lilly

Samstag saß ich am Frühstückstisch, unter Beaufsichtigung meiner Eltern. Sie waren nicht mehr so streng wie früher, trotzdem warfen sie noch eine Auge darauf, ob ich genug aß. Vor allem nach meinem Zusammenbruch am Donnerstag. Seitdem ging es mir zum Glück besser. Meine Anrufliste mit Harvey wurde zwar stets länger und die Seiten meines Tagebuches füllten sich schneller als sonst, doch es ging mir gut. Ich fühlte mich normal. Ich trank meinen Kaffee leer und spülte meine Schüssel ab.
>>Hast du deine Medikamente schon genommen, Schatz?<< fragte meine Mum und reichte mir sofort meine Tabletten aus dem Schrank.
>>Danke<< sagte ich und nahm sie lächelnd entgegen. Mein Arzt und meine Therapeutin hatten mich gemeinsam auf Anti-Depressiva gesetzt, die ich jeden Morgen nehmen musste. Nebenwirkungen waren manchmal Übelkeit und Migräne, doch das nahm ich für eine stabilisiertere Gefühlswelt definitiv in Kauf. Ich steckte mir die Tablette in den Mund und versuchte das Zittern meiner Hände zu unterdrücken als ich sie mit Wasser runter spülte.
>>Ich geh noch ein bisschen für Chemie lernen. Sagt ihr mir Bescheid, wenn wir einkaufen fahren wollen?<< sagte ich und war schon halb auf der Treppe.
>>Ja, klar. Geh ruhig<< antwortete Dad und stellte meine Medikamente wieder in den oberen Schrank. Ich lernte eine halbe Stunde, bis ich das Gefühl hatte so ungefähr einen Plan von dem zu haben, was wir da im Unterricht machten. Ein wenig gefrustet stand ich auf und sah in meinem Kleiderschrank nach, was ich heute Abend anziehen könnte. Eine Stunde suchte ich, doch nichts gefiel mir. Zum Glück rief mein Dad mich zum Einkaufen, sonst hätte ich wohl den kompletten Schrank auseinander genommen. Einkaufen lenkte mich immer ab, vor allem wenn wir Essen kauften. Den Gedanken daran, dass ich mich heute Abend zu fett fühlen könnte, schob ich sofort weg. Unser Einkaufswagen war hinterher auf jeden Fall der gesündeste. Mir wurde schlecht als ich am Kassenband die ganzen ungesunden Sachen der anderen Leute sah. Tief musste ich durch atmen. Manchmal war es doch noch schwer.
>>Weißt du denn schon, was du heute Abend anziehst?<< flüsterte mir meine Mum in der Schlange zu und grinste. Ich seufzte und starrte vor mich hin.
>>Nein, ich hab keine Ahnung. Ich hab schon geguckt, aber irgendwie gefällt mir nichts<<
Meine Mum strich mir durch die Haare.
>>Geh zuhause doch in Ruhe baden und schau dann nochmal. Vielleicht findest du ja dann was<< ermutigte sie mich und half meinem Dad alle Einkäufe wieder in den Wagen zu räumen. Ich nickte und schob dann den Wagen voran zum Auto. Zuhause ließ ich mir ein ordentliches Schaumbad ein. Meine Mum kochte das Essen und Dad brachte für sie ihre Berichte zur Post. Mit nassen Haaren stand ich vorm Spiegel und wusch nochmal mein Gesicht. Ich schlüpfte in ein T-Shirt und eine Jogginghose und deckte dann unten den Tisch.
>>Du siehst süß aus<< sagte sie und reichte mir die Teller an. Ihr Blick wanderte über meine nackten Arme, doch sie sah nicht mehr so traurig aus wie noch vor Monaten. Meine Arme waren von feinen, weißen Narben bedeckt. Anfangs hatte ich immer versucht die große Narbe über meiner Pulsader zu verstecken, doch ich gab auf. Meine Eltern hatten sie schon vor Tagen entdeckt. Ich lächelte meine Mum an und setzte mich an den Tisch.
>>Hast du gleich noch was vor? Schließlich hast du ja noch ein bisschen Zeit, bis Caleb dich abholt<< fragte sie und verteilte das Hähnchen und das Gemüse auf die Teller.
>>Eigentlich nicht, aber ja ich hab noch Zeit<< sagte ich mit Blick auf die Uhr. Es war erst viertel nach drei und draußen war schönes Wetter.
>>Ich glaub, ich geh gleich nochmal spazieren<<
Mum nickte und sah aus dem Fenster.
>>Aber nimm dein Handy mit<<
Ich legte den Kopf schief und fixierte sie mit meinen Augen.
>>Mum, mir passiert schon nichts <<
Ich weiß, sie wollte auf Donnerstag hinaus, doch sie entschied sich doch anders.
>>Ich weiß<< murmelte sie und drückte dann schnell meine Hand. Mein Dad kam zur Tür rein und setzte dich zu uns.
>>Deine Berichte hab ich weg gebracht<< setzte er Mum in Kenntnis und drückte ihr einen flüchtigen Kuss aufs Haar. Meine Güte, konnten die beiden nicht einfach wieder zusammen sein? In meinem Kop regte ich mich furchtbar auf, doch ich wusste auch, dass es manchmal nicht so einfach war mit dem 'zusammen-sein'.
Der Spaziergang hatte mir gut getan und auch meine Übelkeit war durch die frische Luft abgeflacht. Um kurz vor fünf war ich wieder zuhause und machte mich dran, meine Haare ein bisschen zu locken. Obwohl ich immer noch nicht wusste, was ich überhaupt anzog. Als ich mein Make Up hervor kramte, klopfte es leise an meiner Tür. Mum streckte den Kopf zur Tür rein und grinste wie ein Honigkuchenpferd.
>>Was hast du denn?<< lachte ich und bedeutete ihr rein zu kommen.
>>Naja, du hast ja gesagt du hast nichts zum Anziehen...<< lenkte sie ein.
>>Ja...<< machte ich gespannt und konnte ein freudiges Lächeln einfach nicht unterdrücken. Mum hüpfte wie ein kleines Mädchen raus und hängte dann ein Kleid auf einem Bügel an meine Schranktür. Es war ein leichtes, weißes Sommerkleid mit Spaghetti-Trägern und einem etwas längern Stück Rock hinten. Sie hängte mir einen schwarzen, dünnen Gürtel dazu und sah mich erwartungsvoll an.
>>Oh Mum...<< nuschelte ich und befühlte fasziniert den Stoff.
>>Woher hast du das denn?<< fragte ich sie und hatte schon ein schlechtes Gewissen.
>>Das gehörte früher mal mir. Und naja ich dachte, heute wäre eine gute Gelegenheit, dass du es trägst <<
Ich drückte sie ganz fest und verschwand dann sofort mit dem Kleid im Bad.
>>Perfekt<< machte Mum und hatte stolz ihre Hände in die Hüften gestemmt.
>>Danke<< sagte ich und hüpfte nervös mit den Füßen auf und ab.
>>Hier, zieh' die dazu an<<
Mum reichte mir ein paar schwarze, höhere Schuhe. Schnell zog ich sie an und schminkte mich zu Ende.
Dad hatte mir Tee gemacht und ließ Mum und mich noch allein in der Küche. Bei dem Thema Jungs war mein Vater einfach raus. Zehn Minuten schlürfte ich meinen Tee und stand dann zwei Minuten vor 7 vom Tisch auf. Ich räusperte mich und schulterte meine kleine Handtasche.
>>Hast du dein Handy aufgeladen?<< rief mein Dad ganz panisch aus dem Wohnzimmer. Mum ich mussten lachen und sofort war ich weniger nervös.
>>Ja, Dad!<< rief ich zurück und ich konnte ihn erleichtert seufzen hören. Ich ging zur Tür und Mum drückte mich noch einmal. Dann rückte ich mein Kleid nochmal zurecht und ging nach draußen. Caleb war bereits da. Er stand an seinem Auto und sah über die Straße. Er hatte nicht bemerkt, dass ich da war. Ich hatte also ein paar Sekunden, um ihn verstohlen zu beobachten. Er trug ein weißes, perfekt sitzendes Hemd und eine schwarze Jeans. Seine blauen Augen leuchteten selbst in der Dämmerung. Jetzt bewegte er sich doch und sah zu mir raus auf die Veranda. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel und ich konnte sehen, dass er mich ebenfalls musterte.
>>Hey<< flüsterte ich. Er lächelte.
>>Hey<< sagte er zurück und langsam lief ich auf ihn zu.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt