Kapitel 179 - kalter Tee

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Lilly

In meinen Ohren klingelte es und mein Sichtfeld war verschwommen als ich aufstand. Ich stützte mich an der Wand entlang, damit meine Beine nicht zusammen klappten. Ich schleppte mich zur Waage. 38 Kilo. Es war schon mal weniger und allein diese Tatsache ärgerte mich. Aber ich schluckte es runter, mein Gewicht war unwichtig geworden. Meine fast transparente Haut, die durchscheinenden Knochen, alles war unwichtig. Meinen linken Arm spürte ich seit drei Wochen nicht mehr. Ich hatte mir irgendwann eine Sehne durch geschnitten, die ich im Krankenhaus nähen lassen musste. Meine Mum hatte mich an dem Mittag hin gefahren, sie war völlig überfordert und betreute mich seitdem wo es nur ging. Es war Sonntag und ich saß am Nachmittag mit ihr am Küchentisch. Noch vier Tage bis Weihnachten. Sie langte mit ihrer Hand über die Tischplatte.
>>Möchtest du reden, Schatz?<< fragte sie vorsichtig. Ich schüttelte den Kopf und wärmte mir weiter meine kalten Finger an der Teetasse, die ich noch kein bisschen angerührt hatte. Mir war so kalt, mein Körper zitterte nur noch. Meine Mum zog ihre Hand wieder zurück. Sie seufzte und nippte an ihrem Tee. Ihr Blick glitt zur Uhr. Ich war genervt von dem immer lauter werdenden Ticken des Zeigers.
>>Was kann ich tun, damit du dich besser fühlst?<<
Sie sah so traurig aus und augenblicklich wollte ich ihr dieses Leid nehmen. Auch, wenn mich ihre Sorge gar nicht so richtig erreichte. Ja, ich wusste sie macht sich Gedanken. Ich wusste, sie will helfen. Ich wusste, sie liebt mich. Und ich wusste, sie will nir das beste für mich. Doch das alles kam nicht mehr richtig bei mir an. Ich konnte diese Gefühle nicht mehr mit ihr teilen. Unsere Verbindung war irgendwo eingerissen. So wie jede andere auch, zu meinen restlichen Mitmenschen. Und ich fand absolut keinen Weg mehr zurück.
>>Nichts Mum. Mir geht es gut.<<
Schwach lächelte ich. Sie legte den Kopf schief und verzog den Mund.
>>Nein, dir geht es nicht gut.<<
Ich sah weg und trank den ersten Schluck aus meiner Tasse. Der Tee war fast kalt. Ich biss mir auf meine bebende Unterlippe, Tränen füllten meine Augen.
>>Mir ist kalt.<< flüsterte ich, als wäre das mein einziges Problem. Meine Mutter sprang sofort auf und holte eine Wolldecke aus dem Wohnzimmer. Sie legte sie mir um und strich über meine Schultern. Dann nahm sie mich ganz fest in den Arm und drückte zwei Küsschen auf meine Wange.
>>Es tut mir leid<< sagte ich.
>>Nein. Nein, das muss es nicht. Es ist okay, Schätzchen<< antwortete sie. Ich hörte, wie sie ebenfalls mit den Tränen kämpfte. Ich verursachte zu viel Schaden. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Einfach da zu sitzen und zu wissen, wie kaputt man ist. Einfach da zu sitzen, leise, unfähig sich zu rühren. Während alle anderen wild um dich herum rennen, nach Hilfe für mich betend, die es nicht mehr gab. Es ist ein eigenartiges Gefühl, nicht mehr richtig lebendig zu sein, obwohl man da ist. Was tut man da gegen? Wie kommt man da raus? Wann steht man auf und denkt sich: Ja, jetzt ist alles wieder gut? Ich trank den Tee aus, ganz ohne ihn zu schmecken.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt