Kapitel 109 - Weight

899 56 2
                                    

Lilly 

>>Ich muss Sie jetzt einmal abtasten, um zu sehen, ob Sie irgendwelche Gewichte mit sich tragen<< sagte die Frau vor mir und fing dann an mich abzutasten. Erst biss ich die Zähne zusammen, weil es mir schon sehr unangenehm war. Schließlich stand ich nur in Unterwäsche vor ihr. Doch wahrscheinlich war es für sie komplett Routine. Sie sah schließlich tausend junge Leute wie mich, fast tagtäglich.

>>Gut, dann kannst du dich jetzt auf die Waage stellen<< kam es monoton aus ihrem Mund. Sie musste wohl meinen nervösen Blick bemerkt haben, weshalb sie noch schnell ein Lächeln hinterher schob.

Dr. Steele kam herein und zog sofort meine Papiere hervor. Ich erschrak, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass ein Arzt und keine Ärztin mich wiegen würde.

>>Ich hoffe es ist okay für Sie, wenn ich Sie heute untersuche. Dr. Martens ist leider verhindert<<sagte er freundlich und ich fühlte mich seltsamerweise gut bei ihm aufgehoben.

>>Nein, das ist okay und bitte nennen Sie mich doch Lilly<< stammelte ich und verschränkte meine Arme vor der Brust.

>>Gut Lilly, dann steig mal auf die Waage<<

Gerade als ich zögerlich einen Schritt auf die große Waage machen wollte, wurde die Tür aufgerissen. Harvey kam ins Zimmer gerannt und versuchte seine Schnappatmungen unter Kontrolle zu bringen. Ich musste lachen und auch Dr. Steele konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es sah zu lustig aus, wie Harvey dort im Türrahmen hing.

>>Bitte Dr. Steele Lilly soll das nicht allein machen. Nicht beim ersten Mal<< keuchte er.

>>Na schön Harvey, aber dann komm doch bitte rein, damit wir endlich anfangen können<<

Harvey schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dann an die Wand hinter mich.

>>Also dann<< machte Dr.Steele und bat mich zur Waage. Ich holte einmal tief Luft und stieg dann hinauf. Ich hatte mich eine Ewigkeit nicht mehr gewogen. Mein letzter Stand waren 39,7kg. Ich spürte mein Herz schlagen als die Zahlen auf der Anzeige blinkten. Dann wie mein Puls sich verlangsamte und mein Blut durch meine Ohren rauschte als mein Gewicht zu sehenwar. 40kg.

>>Du hast deine 200 Gramm erreicht<< sagte der Arzt, doch ich bekam es gar nicht mit. Ich riss meine Augen auf und stolperte keuchend nach hinten. Wären Harveys Arme nicht da gewesen, die mich kräftig stützten, wäre ich glatt zu Boden gefallen.

>>Hey, alles ist gut<<hörte ich ihn an meinem Ohr sagen. Tränen stiegen mir in die Augen, die ich panisch und wütend versuchte weg zublinzeln.

>>Alles ist gut. Du hast die 200Gramm geschafft<< flüsterte Harvey und wiegte mich sanft in seinen Armen. Ich schloss die Augen und nickte. Langsam beruhigte ich mich und ich war froh, dass er hier war. Ich fühlte, wie er mich vorsichtig in meinen Bademantel einwickelte.

>>Ich kümmere mich um sie<< sagte Harvey dann zu dem Doktor und brachte mich raus.

>>Na komm, du gehst jetzt erstmal duschen, dann ziehst du dir was bequemes an und wir gehen raus. Chrissy wartet schon auf der Wiese<<

Ich konnte ihm einfach nicht widersprechen, also tat ich was er sagte und ging gute zwanzigMinuten später schon den Weg zur Wiese runter. Harvey und Chrissy saßen auf einer großen Decke in der Sonne und unterhielten sich sichtlich entspannt.

>>Wir haben alle unsere Gramm für diese Woche geschafft<< sagte Chrissy verträumt und zog mich zu ihr auf die Decke. Niemand sagte mehr etwas. Wir lagen einfach nur hier auf dieser Decke, auf dieser Wiese, unter dieser Sonne. Es warso ruhig, dass Frieden in mein Herz kehrte. Und genau in diesem Moment brauchte ich nicht mehr und nicht weniger als diese Wiese. Hier gehörte ich gerade her, genau mit diesen beiden verrückten Menschen neben mir.

>>Na kommt, wir müssen los<< murmelte Chrissy leise und tippte mir an die Schulter. Abendessen. Und schon wich der Frieden in mir dem Krieg. Erneut. So, wie immer. Doch war ich bereit zu kämpfen. Ich wollte alles dafür tun, mich so unbeschwert wie auf der Wiese zu fühlen. Und diesmal von Dauer. Also schlürfte ich brav ein paar Löffel von meiner Suppe, aß ein paar Bissen von meinem Apfel, genauso wie vom Brot. Trotzdem reichte mir der Mann hinterher noch einen halben Kalorienshake rüber. Den ich aber auch ganz leerte. Nach dem Abendessen wollte ich allein sein. Lange lehnte ich an meiner Tür und starrte in mein Zimmer. Es war immer noch kahl, nicht eingerichtet. Also zog ich die unterste Schublade meiner Kommode auf und fischte meine Bettwäsche von zu Hause heraus. Ich bezog mein Bett und stellte unser altes Familienfoto auf meinen Nachttisch. Meine drei Lieblingsbücher stellte ich auf den Schreibtisch. Und auch wenn sich in meinem Zimmer immer noch nicht viel getan hatte, so fühlte ich mich doch schon wohler als ich mich in meine Wolldecke einrollte und mich an den Schreibtisch setzte, um Tagebuch zu schreiben. Ich schrieb, ohne groß darüber nachzudenken. Meine linke Hand wanderte automatisch zu meinen Schlüsselbeinen, dann zu meinen Rippen. Immer, wenn ich schrieb, tat ich das. Und ich weiß, ich hatte nur ein paar Gramm zugenommen, aber trotzdem fühlte es sich an, als könnte ich meine Knochen nicht mehr so spüren wie sonst. Krampfhaft schluckte ich und zwang mich nicht weiter darüber nachzudenken. Beim letzten Satz stockte ich und setzte schließlich den letzten Punkt.

Um mich herum sind tausend Menschen, aber ohne Caleb fühle ich mich einsamer als je zuvor. 

Ich starrte aus dem Fenster in die untergehende Sonne und plötzlich fühlte ich mich so müde als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Mein Kopf wurde schwer und erschöpft sank ich auf meinen Arm. 

>>Lilly?<< hörte ich irgendwann eine gestresste Chrissy neben mir, die mich ungeduldig an der Schulter rüttelte.

>>Was?<< schreckte ich hoch und schaute mich panisch um. >>Wie spät ist es?<<

>>Lilly, du hast das Frühstück verpasst! Beeil dich, sonst verpasst du auch noch deine Therapie!<< haspelte sie und versuchte meine Haare zu bändigen.

>>Scheiße<< grummelte ich und kletterte aus meiner Decke und dem Stuhl. Ächtzend versuchte ich mich zu strecken, doch meine Gelenke hatten sich über die Nacht auf dem Stuhl einfach zu sehr verkrampft. Hunger hatte ich auch, mein Magen grummelte grauenvoll.

>>Jetzt mach schon, du bekommst wahrscheinlich eh Ärger wegen dem Frühstück!<< gab Chrissy von sich und scheuchte mich aus dem Zimmer. Noch völlig verschlafen versuchte ich so schnell es ging die Flure runter zu laufen und schaffte es mit einer Verspätung von drei Minuten in die Therapiesitzung.

>>Guten Morgen Lilly<< sagte Dr Andrews und sah mich ganz verwundert an. Ich musste wirklich so schlimm aussehen, wie ich mich fühlte. 



Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt