Kapitel 168 - Heaven

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Lilly

Irgendwie lief dann aber doch alles aus dem Ruder. Ab Mitte Oktober nahm ich immer mehr Abstand von Caleb. Und er ließ es zu. Mit Nick und den Jungs hatte ich nichts mehr zu tun. Bis auf ein paar flüchtige Blicke in der Schule, war es als hätten wir nie was miteinander zu tun gehabt. Mit Harvey hatte ich immer seltener telefoniert, beim letzten Mal hatte er gar nichts mehr gesagt. Seine Schmerzen konnte ich durchs Handy hören und es zerriss mir das Herz. Dann riss dieser kleine Faden, den wir an Verbundenheit noch hatten und ich verlor den Kontakt zu ihm. Von Chrissy hatte ich seit meiner Entlassung nichts gehört und ich machte mir Sorgen. Die Menschen, die mir geholfen hatten weiter zu leben, entglitten mir. Es war als würde ich wieder vergessen, wie man lebt. Milla verbrachte wieder mehr Zeit mit Matt und ich wollte die beiden nicht stören. Ich hatte genug bei ihr rumgelungert, wenn ich Caleb aus dem Weg gehen wollte. Stattdessen trafen Alexa und ich uns immer öfter. Wir verstanden uns gut und langsam sah ich wie witzig und fröhlich sie eigentlich war. Trotzdem viel es ihr manchmal schwer diese arrogante Maske, die sie sich mühselig gebastelt hatte, abzulegen. Doch sie tat ihr bestes und langsam taute sie auf. Alles nahm seinen Lauf, egal ob gut oder schlecht. Bis die Zeit plötzlich stehen blieb und ich erstarrte, an diesem Donnerstag im November. Ich war mit meiner Mum allein zuhause. Ich hatte mich in einem großen Wollpulli mit ihr auf die Couch gekuschelt. Wir schauten irgendeinen Film im Fernsehen als es an der Haustür klingelte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie das dumpfe Klingeln durchs Haus schallte. Langsam stapfte ich zur Tür und zog meinen Pulli fester um mich als ich die Tür einen Spalt öffnete.
>>Hallo Lilly<<
Meine Kinnlade klappte mir herunter, dann stürmte ich raus und schloss Chrissy in meine Arme. Sie sah so anders aus, strahlte. Ich war so stolz auf sie. Ich hielt sie ein Stück von mir weg und redete drauf los wie ein Wasserfall.
>>Oh mein Gott, du bist draußen! Du siehst wundervoll aus. Hast du dich schon bei Harvey gemeldet? Wir müssen ihn unbedingt anrufen. Oder nein, wir müssen einfach zu ihm fahren! Er wird sich so freuen! Wow, ich bin so stolz auf dich. Ich wusste, du schaffst es.<<
>>Lilly!<< stoppte sie mich, ihre Unterlippe zitterte leicht. Erst jetzt sah ich die Ringe unter ihren angeschwollenen Augen. Mein Blick fiel auf ihr schwarzes Kleid und den schwarzen Pulli, den sie darüber gezogen hatte. Fest biss sie sich auf die Lippe, ihre Augen schnellten hin und her.
>>Was ist?<< brachte ich hervor.
>>Lilly...<<
Ihre Hand glitt hinab und ihre Finger zitterten ebenfalls.
>>Harvey ist tot.<<
Meine Lunge zog sich zu, mein Körper wurde taub und in meinen Ohren rauschte es.
>>Er konnte einfach nicht mehr. Es tut mir so leid.<< flüsterte sie und drückte meine Hand. Ich schnappte nach Luft und versuchte mich selbst zu halten. So zusammen zu halten, wie nur Harvey es konnte. Doch ich brach. In tausend Teile. Das Klirren meines zerspringenden Herzens dröhnte in meinem Kopf.
>>Ich hab zwei Flüge gebucht, seine Beerdigung ist morgen früh. Bitte, komm mit mir.<<
Tränen rannen über ihr Gesicht. Tränen, die ich nicht weinen konnte. Tränen, die ich viel zu oft vergossen hatte.
>>Bitte, komm mit mir.<<
Schmerzerfüllt nickte ich mit dem Kopf und schloss sie wieder ganz fest in meine Arme. Sie weinte an meine Schulter, während ich sie hin und her wiegte. Ich wusste nicht wie, doch wir landeten in meinem Zimmer. Schweigend packten wir eine Reisetasche. Weinend erzählte Chrissy meiner Mutter, was passiert war. Auch ihr standen Tränen in den Augen und sie ließ mich mit Chrissy gehen. Chrissys Tante fuhr uns zwei Stunden zu einem Flughafen. Ich kann mich nur noch an wenig erinnern, doch irgendwann saß ich auf einem Platz im Flugzeug und starrte auf die Wolken hinaus. Die untergehende Sonne ließ den Himmel in Flammen aufgehen und brannte in so leuchtenden Farben. Harvey hatte in solchen Farben gestrahlt. Es sah aus als würde er den gesamten Himmel mit seiner Seele erleuchten. Fast konnte ich seine Hand in meiner spüren. Das war das letzte Mal, dass ich mich ihm so nah fühlte. Danach war ich verlassen. Harvey hatte diese Welt verlassen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Harvey hatte mich verlassen und ich hatte absolut keine Antwort darauf wie ich das verkraften sollte als ich am Morgen auf seinen schwarzen Sarg hinab sah. Chrissy und ich verbrachten den Rest der Woche in New York. Ich war froh, dass Harveys Vater nicht bei der Beerdigung war. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht. Ja, das hätte ich wirklich. Montagabend tropfte mein rotes Blut auf die Fliesen im Bad, in unserem Haus. Die Klinge klirrte daneben. Ansonsten spürte ich nichts. Ich starrte an die Wand, während ich versuchte die Trauer aus mir heraus zu schneiden. Am Mittwoch ging ich dann wieder zur Schule. Nicht, weil ich wollte oder konnte. Sondern weil ich einfach musste. Ich musste mich zwingen zu leben, obwohl ich nicht wusste, ob ich das nich konnte. Es ist unbeschreiblich, jemanden zu verlieren, den man so geliebt hat.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt