Kapitel 126 - hold my hand

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Lilly

Der Wecker riss mich am Sonntagmorgen aus dem Schlaf. 7 Uhr. Sanft rüttelte ich Chrissy neben mir wach und wankte dann ins Bad. Ich putzte mir die Zähne, wusch mein Gesicht und band meine Haare hoch. Dann wechselte ich noch schnell mein Shirt und weckte Chrissy dann erneut, die wieder eingenickt war. Schlaftrunken und dennoch aufgekratzt wie ein Hühnchen lief sie neben mir her. Mein letzter Weg zum Speisesaal. Harvey wartete schon an der Glastür. Er lächelte, doch es war als könnte ich seinen viel zu schnellen Herzschlag bis hier hin spüren. Er riss mich schon fast in seine Arme, seine Angst war kaum zu übersehen. Zum Glück war Chrissy noch zu müde, um überhaupt irgendwas mitzubekommen. Ich packte mein Tablett so voll wie noch nie, ich hätte gerade alles essen können, obwohl mir gar nicht so wohl war. Es fühlte sich an als würde jeder von uns das Frühstück so lange wie möglich hin zu ziehen, obwohl es wahrscheinlich genauso lange dauerte, wie sonst auch immer. Drei ein halb Monate war das hier mein Leben gewesen. Und in weniger als drei Stunden sollte es das plötzlich nicht mehr sein. Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte. Ist es verrückt, dass ich mich hier in der Klinik eigentlich ganz wohl gefühlt hatte? Auch wenn ich wusste, dass ich das nur getan hatte, weil ich so vor meinen alten Problemen, vor meinem Leben davon laufen konnte. Ich trank den letzten Schluck meines Kaffees aus und stellte die Tasse auf mein leeres Tablett. Wir sagten gar nichts, wir sahen uns nur an. Chrissy war weiß wie die Wand und sah aus als hätte sie einen schlechten Traum gehabt. Und Harveys Anspannung konnte ich bis hier hin fühlen. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich auf die beiden wirkte. Wie in Zeitlupe standen wir alle auf und brachten unser Geschirr weg. Ich drückte die beiden fest und Harvey und ich machten uns auf den Weg zu unseren Entlassungssitzungen. Als ich da so auf dem roten Sessel vor Doktor Andrews saß, war mir ganz schlecht und ich starrte an ihr vorbei. Sie wertete noch ein paar ihrer Papiere aus, legte ihr Klemmbrett dann zur Seite und sah mich lächelnd an.
>>Wie geht's dir heute, Lilly?<<
Ich fing an zu zittern.
>>Ehrlich gesagt ist mir schlecht und ich bin traurig und hab Angst<< stotterte ich und versuchte meine verkrampften Muskeln zu entspannen.
>>Okay, was macht dich denn so traurig?<< fragte sie beruhigend.
>>Am meisten, dass Chrissy hier allein bleibt und ich die beiden nicht mehr jeden Tag sehen kann<< fing ich an zu schluchzen.
>>Ich kann dir versichern, dass Chrissy auf dem besten Weg ist und es sicher nicht mehr lange dauert, bis auch sie entlassen wird. Sie braucht nur einfach noch ein wenig mehr Zeit. Mach dir darüber keine Sorgen. <<
Ich nickte und wischte mir die Tränen weg. Wie dumm, dass ich schon wieder weinte, obwohl heute doch einer der schönsten Tage überhaupt sein sollte.
>>Und ja, ich weiß es ist schwer jetzt diesen neuen Alltag zu beginnen, aber du hast so viel geschafft, es war so ein weiter Weg für dich hier her zu kommen. Das ist der Neuanfang, den du brauchtest, du musst ihn nur zu lassen. Ja, wahrscheinlich werden auch noch schwierige Zeiten auf dich zu kommen, aber das wirst du auch bewältigen. << versicherte sie mir sanft und schob mir die Taschentuchbox rüber.
>>Du musst keine Angst mehr haben.<< sagte sie so intensiv, dass Gänsehaut über meinen Körper wanderte. Ja, der Schritt hier raus wird schwer und der Weg zurück in ein neues Leben wird noch schwieriger, aber ich hab meine Freunde und meine Eltern, die mich bei allem unterstützen. Ich bin stärker als vorher und irgendwie werde ich das alles schon hinbekommen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie das aussehen sollte. Doktor Andrews und ich redeten noch eine ganze Weile, über fast banale Dinge, wie mein Zimmer zuhause, über wichtige Dinge, wie meine Therapieplanung wenn ich wieder zuhause war.
>>So Lilly, unsere Zeit ist um. Ich denke, du willst noch einmal hoch und dich fertig machen. In einer halben Stunde sin deine restlichen Papiere fertig und du kannst entlassen werden.<<
Ich stand auf und reichte ihr zögerlich die Hand.
>>Vielen Dank, für alles, Doktor Andrews.<<
>>Das habe ich gern getan, Lilly. Ich wünsche dir alle Gute.<<
Ich nickte und verließ dann den Raum. Tief atmete ich als ich auf dem Weg zu meinem Zimmer war. Ein paar Sekunden stand ich in Unterwäsche vor dem gelben Kleid, dass ich an meine Tür gehängt hatte. Ich dachte an den Moment als Harvey vor drei Monaten mit glitzernden Augen vor diesem Kleid stand und mir sagte, ich solle es tragen, wenn ich hier raus kam. Schluckend versuchte ich den Kloß in meinem Hals runter zu bekommen und strich über den glatten Stoff.
>>Du schaffst das<< sagte ich zu mir selbst. Ich nahm das Kleid vom Harken, zog es an und drehte mich mit geschlossenen Augen zum Spiegel. Erst nach ein oder zwei Minuten traute ich mich meine Augen zu öffnen und mich anzuschauen. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich wieder schön. Das Kleid passte wie angegossen und zum ersten Mal erkannte ich, dass ich schöne Kurven besaß, die ich durch mein Essverhalten immer weg gehungert hatte. Meine langen Haare flossen mir in sanften braunen Wellen den Rücken hinunter und meine Haut strahlte rosig. Ich sah gesund aus und wunderschön. Ich schluckte einmal und griff dann nach meinem Koffer. Ich fuhr den Fahrstuhl runter ins Erdgeschoss und lief auf die Rezeption zum Haupteingang zu. Harvey und Chrissy warteten bereits da. Chrissy hatte sich in eine weiße Strickjacke gewickelt und lehnte sich an die Theke, während Harvey gerade noch zwei Dokumente unterschrieb. Er trug eine schwarze Jeans mit einem weißen Shirt und seiner Kette. Er sah aus wie immer und doch schien er fast zu strahlen. Beide stockten als sie mich sahen.
>>Verdammt, ja!<< kreischte Chrissy und fiel mir um den Hals.
>>Du siehst wunderschön aus<< sagte Harvey leise als auch er mich in den Arm nahm.
>>Sieh dich an<< lachte ich nur und errötete ein wenig.
Die Empfangsdame an der Rezeption schob mir meine Entlassungspapiere zu und ich sah Chrissy und Harvey noch einmal an, bevor ich den Stift ansetzte und meine Unterschrift auf die Linie schrieb. Jetzt war ich entlassen, ich war draußen, es war vorbei. Harvey und ich trugen unsere Koffer raus und drehten uns dann zu Chrissy um. Sie lachte und fing dann an zu weinen.
>>Oh nein, Schatz<< machte Harvey traurig, auf ihren Socken kam sie auf uns zu gestürmt und zu dritt umarmten wir uns. Sie schluchzte bitterlich und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter.
>>Wir sind nie allein, wir werden uns immer wieder finden!<< sagte Harvey bestimmt und hielt uns zwei ganz fest.
>>Okay<< krächzte sie und ließ uns los. >>Ich hab euch lieb<<
sagte sie dann mit Tränen in den Augen. Ich konnte nicht anders, ich musste sie noch ein mal an mich ziehen.
>>Wir dich auch<<
>>Okay<< kam es dann von Harvey. Es ging los. Gequält ließ ich Chrissy los und lächelte sie ein letztes Mal an. Ihr würdet jetzt bestimmt sagen: Oh Gott, wie dramatisch. Aber nein, das war es wirklich, es war traurig. Mein Herz tat weh, allein bei dem Gedanken, diese zwei wundervollen Menschen jetzt zu verlassen. Harvey und ich gingen los, den hellen langen Kiesweg zum Parkplatz hoch, wo unsere Familien auf uns warten würden. Dieser Moment war so unreal, dass ich kurz Panik bekam.
>>Halt meine Hand.<<
sagte Harvey beruhigend. Er hielt meine Hand so fest, er gab mir Sicherheit. Und gleichzeitig fühlte ich mich als würde ich gleich alles verlieren, was mich die letzten Wochen am Leben erhalten hatten. Gerade war er mir noch so nah, doch mit jedem Schritt wurde uns bewusster, dass wir bald einsamer den je sein würden. In der zweiten Reihe des Parkplatzes konnte ich das Auto meines Vaters sehen und auch Harvey hielt an.
>>Da vorne ist meine Mum<< Er strahlte über das ganze Gesicht als er sie sah.
>>Ja, ich kann unser Auto auch schon sehen<<
sagte ich nickend und schluckte schwer. Ich holte tief Luft und sah ihm in die Augen. Traurig versuchte er zu lächeln. Wir hielten uns in den Armen. Sekunden, Minuten. Ich wollte diesen Menschen nicht los lassen und gleichzeitig wollte ich sehen, wie er seinen Neuanfang antrat. Widerwillig ließen auch wir uns los. Wir nickten und ließen unsere Hände los.
>>Wir schaffen das<< flüsterte ich und versuchte ihm und mir Mut zu machen. Er küsste meine Wange, nahm dann seinen Koffer und sah mich noch ein letztes Mal an, bevor er zu seiner Mutter lief. Sie war schön, genau wie ihr Sohn. Schlank, blonde glatte Haare. Sie schloss ihren Sohn in die Arme und winkte mir freundlich zu. Ich nahm ebenfalls meinen Koffer und lief zu unsrem Auto.
>>Lilly, mein Schätzchen<< riefen die beiden und meine Mum war die erste, die mich in die Arme nahm. Mein Dad hob mich hoch und riss mich schon fast an sich. Wir weinten und lachten. Und ich merkte, wie sehr ich meine Eltern vermisst hatte.
>>Du bist so wunderschön, Schatz<< sagte meine Mum und strich mir durchs Gesicht.
>>Vor allem siehst du wieder gesund aus<< ergänzte mein Dad und hob meinen Koffer ins Auto.
>>Dann lasst uns nach Hause fahren<< verkündete meine Mum und hielt mir die Tür auf.
Ja, ich wollte nach Hause.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt