123. Ertrinken

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Diese ganzen Opfer waren ein Witz. Da bildeten sie nun ihre wehleidigen Stuhlkreise irgendwo in einem kahl sterilen Kellerraum und weinten zusammen. Irgendwo hier. Vielleicht saßen sie in einem dieser Hochhäuser und redeten sich gegenseitig die Schwere ihres Leidens immer schwerer und schwerer, weil das ja half.

Und nebendran tagte die Selbsthilfe der Brustkrebsfraktion, und daneben dann die Eltern, die ein Kind verloren hatten, und nirgendwo tagten die Mordopfer, auch nicht die Soldaten, die irgendwo jetzt gerade erschossen wurden. Oder die Kinder, die aus mangelnder ärztlicher Versorgung heraus an den Masern verreckt waren, oder die aus Nahrungsknappheit verhungert waren, oder die aus dem Flüchtlingsboot heraus ins Meer hinabgezogen worden waren.

Dartagno hatte mal in die Suchmaschine eingegeben, was so die schlimmsten Arten zu sterben waren. Ertrinken würde er nicht wollen. Verbrennen war auch ziemlich scheiße. Beim Verhungern fraß sich der Körper gegen Ende selbst. Er empfand den Ebolatod als unwahrscheinlich grausam und zeitgleich auch als unglaublich ästhetisch. Die Zellwände der Blutgefäße lösten sich auf und man verblutete einfach von innen. Wie sich das wohl anfühlte?

Da tagten sie nun also überall um ihn herum. Jemand hat mich diskriminiert! Jemand hat das falsche Wort benutzt! Jemand hat mich angefasst, wo er es nicht sollte! Dartagno bekam diese Vision von ertrinkenden Neunjährigen einfach nicht aus seinem Schädel. Es pochte in seiner Faust.

Nachdem sich die Lungen mit Wasser gefüllt hatten gingen alle Überlebensinstinkte gleichzeitig an und man schnappte automatisch nach noch mehr Wasser, während man panisch bemerken musste, dass es keinen Ausweg gab, die Oberfläche zu weit entfernt war, um sie zu erreichen. Irgendwann wurde man zwar bewusstlos, aber der Weg dahin war länger, als man glaubte.

Schritt für Schritt kämpfte er sich durch die laut kichernden und gackernden Massen von Konsumparasiten, mit ihren voll befüllten Beuteln von Blut. Blinde, entstellte Hühner hatten für sie Eier gelegt. Medizinisch unterversorgte Kinder hatten mit vernarbten, geschwollenen Fingern ihre Kleider gewebt. Ganze Nachbarschaften spien täglich schwarze Galle aus ihren Lungen, weil der Plastikmüll ihrer Waren zehn Meter entfernt von ihnen auf einer gigantischen, schwimmenden Müllhalde Teer und Schwefel in die Luft stieß.

Aber das Schlimmste, war immer das, was dem Onkel Benjamin passiert war. Was meinem Sohn passiert war. Was mir passiert war. Wir brauchen eine Gruppe, um darüber zu reden, was mir passiert war. Was meiner Großmutter passiert war. Wir brauchen Gesprächsgruppen, mehr Gesprächsgruppen! Es musste mehr über mein Problem gesprochen werden! Helft mir, da ist eine Fliege in meiner Suppe! Kellner! Kellner!

Die Hochhäuser um ihn herum waren wieder zu diesen sich selbst abschälenden Hautlappen mutiert, und die riesigen Blutegelmassen um ihn herum trugen ihr zentrales Nervensystem wulstig gehäutet wie wunderschöne Kleider, um Dartagno mit ihren ewigen Höllenschmerzen zu imponieren. Ihre Augäpfel sahen reif zur Ernte aus.

Die Obdachlosen waren die einzigen, die bemerkten, dass mit diesem Menschen irgendetwas nicht stimmte, da sie es wagten ihn anzusprechen. Egal, wie schnell er lief, egal, wie weit sein Bogen um sie war. Sie sprachen ihn immer an. Weil er arm aussah. Nie die Typen im Anzug oder die Frauen mit den Zucci Handtaschen, in den blank geputzten Stilettos. Sie lungerten immer nur parasitär da rum, wo sie die anderen etwas weniger Armen aussaugen konnten. Wäre er obdachlos, dann würde er irgendwelche hochrangigen Politiker jagen, ihnen mit Messerstichen zeigen, was er von ihrer Politik hielt.

Wäre er obdachlos, würde er sich die reichste Gegend der Stadt aussuchen und wie ein Schreckgespenst dort wüten. Aber diese erbärmlichen Wichser, denen ging's nur darum wer ihnen Geld gab. Und das waren natürlich immer die, die ihr Leid kannten und es nachvollziehen konnte. Mein Onkel, meine Tochter, mein Steuerberater... Fickt euch. Sie riefen ihm »He! Ich rede mit dir!« hinterher, oder auch »Das ist aber nicht nett von dir!« während Dartagno fand, dass sie sich echt glücklich schätzen durften, dass er nicht sofort ihre Äpfel aberntete.

Plurale Welt (Gesamtausgabe, wattpad-friendly)Where stories live. Discover now