87. Marterpfahl

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Das Lager der 55er war praktisch ein Saustall. Pfützen, Morast, ausgelaufene Suppe, und irgendwoher hörte man das »Iihaah!« eines Esels plärren. Phlatsch kamen aus der Versenkung der Wellblechdächer hinübergeschwappt und ergossen sich zwischen alle Körper des Lagers. Die Gefangenen wurden der Allgemeinheit der Reihe nach vorgeführt, und übergangsweise am großen Marterpfahl festgezurrt, der im Boden des kreisrunden Aufenthaltsbereichs hineingebuddelt worden war.

Rasmus war irgendwo anders. Nicht hier. Sein Körper bewegte die Vikings zwar Schritt für Schritt vorwärts, aber es war, als hätte man den freien Adler im Flug abgeschossen und da lag er nun, blutend, mit nur noch einem Flügel, und musste sich an jeden Atemzug heranrobben, um noch ausreichend alle Triebwerke auf »Überleben« halten zu können.

Estellas Augen waren fest entschlossen. Ihr Hintern war voller Dreck von ihrer vielen Versuche einen »stillen Protest« abzuhalten, indem sie ihn während ihres Marsches immer wieder auf den Boden hatte fallen lassen, und sich jedes Mal mit ihrem vollen Körpergewicht geweigert hatte aufzustehen. Sie hatte mal davon gehört, wie schwer jemand sein konnte, der wirklich überzeugend Tot spielte. Als sie an der Reihe war zum Marterpfahl geführt zu werden, reflektierte sich der grelle, grüne Blitz ihres Ohrsmaragds in den Augen eines Beobachters.

Kung Cha, ehemals Ismail, war ihr perfekt maskuliner Körperbau nicht entgangen. Er hatte sowas einfach noch nie in seinem Leben gesehen. Ein heldenhafter Mann, wie aus den Comics, die er immer geschmuggelt und heimlich als kleiner Junge gelesen hatte. Phlatsch pflatschten vor Kung Chas Gesichtsfeld, als sich deren Würste daran zu schaffen machten Estellas Fesseln noch einmal zu überprüfen.

Er sah ihn an! Ja, mit absoluter Sicherheit sah dieser Fantasieheld mit den wallenden, roten Haaren zu Kung Cha hinüber! Seine Augen fixierten sich auf seine, so, als ob er ihm etwas Ungeheuerliches würde zu sagen haben! Kung Cha war offenbar das perfekte Opfer für Estellas unterbewussten Sirenengesang. Dabei handelte es sich vermutlich einfach nur um den Sirenengesang eines Pluralen, dessen Körperhaltung und Wesensart dem Singlet einfach einen sehr starken, magnetischen, inneren Druck bereiten musste. Wahrscheinlich war Kung Chas Genetik auf Exotik programmiert, und Estella traf alle Schalter gleichzeitig.

Kung Cha wusste, was es bedeutete unterdrückt zu werden. Aber er hatte eine Höllenangst vor diesen 55ern. Wenn man die betrog, war man geliefert. Doch dieser wunderschöne Barbar hatte es irgendwie trotzdem geschafft während seiner gesamten Gefangenschaft sich seine Aura von Erhabenheit beizubehalten. Das alleine schon war eine gigantische Inspiration für den Jungen, der sein ganzes Leben lang verstoßen war.

Niemand sonst kümmerte sich um Estellas Show, hauptsächlich weil viele von ihnen selbst Plurale waren, und die Sache mit der mangelnden Angst vor dem Tod...naja...da konnte es einfach bei manchen ein Bewusstsein geben, das gar nicht in der Lage dazu war Angst zu haben. Manche waren einfach nur das reinste Rauschen. Sie bestanden aus dem Khzzzzz und dem Bhzzzz, das sich im Geist einstellte, wenn niemand dachte. Aber egal wer Estella war, sie hatte offensichtlich die Schwelle schon einmal übertreten, in der sie sich ihres Todes sicher gewesen sein musste. Das war für Plurale relativ normal, immerhin konnte man im Äther seine unfassbare Form nicht wirklich sicher verteidigen, im Gegensatz zum Körper. Es war immer irgendwo ein Würfelwurf im Spiel. Na? Wie viele sind wir jetzt? Fehlt einer? Bin ich jetzt Zwei?

Alle von Phlatschs Einschüchterungstaktiken beruhten eigentlich daher auch mehr auf ihrer Annahme, dass Shane gar nicht plural war, sondern bloß eine Fakerin – und Fakende waren ihrer persönlichen Ideologie nach nichts wert. Denen konnte man noch schön Angst einjagen. Vom Satan und von Folterungen, von ewigen, neuen Schmerzen, die sie noch nie zuvor gespürt hatten. Obwohl eigentlich jeder wusste, wo der »Aus«-Knopf war. Es würde einfach ein Fallenlassen in die existenzlose Suppe bedeuten. Pflatsch! Weg bin ich! Ätschibätsch!

Plurale Welt (Gesamtausgabe, wattpad-friendly)Where stories live. Discover now