54. Benebelt

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Die hohen Dächer ragten in den Himmel des Bezirks hinaus. Sie schienen an Estella vorbeizugleiten, als sie dabei zusah, wie der nächste Trip vorbereitet wurde. Sie mochte die Stille vor dem Sturm. In einer fremden Welt konnte man viel besser loslassen als daheim. Hier kannte einen keiner, und wenn, dann nur jemand wie Brennen, der einen sowieso schon längst aufgegeben hatte, und es deshalb einfach egal war. Die Häuserfassaden waren neu, die Geschäfte waren neu, die Menschen trugen komische Piercings und Tätowierungen auf ihren Händen und Hälsen.

Es war nicht wie daheim, wo man schon anders war, nur weil man jemanden im Kollektiv hatte, der keine Familie mit Kind wollte. Hier draußen wurde man nicht verurteilt dafür, wie man wen küsste oder mit welchen Karrierezielen man unterwegs war. Jeder war hier so unterwegs, wie er es eben sein wollte. Die Anzüge kümmerten sich nicht um die Punks, die an ihnen vorbeiliefen. Und die Punks hier waren auch keine Alkoholkranken, die immer nur im Chimrolet versackten. Manche von ihnen betrieben eine eigene Boutique oder nahmen tatsächlich schon ihr fünftes Studioalbum auf, statt nur darüber zu reden, irgendwann mal irgendetwas zu starten. Hier konnten sich nur diejenigen halten, die den nötigen Biss besaßen um die hohen Mieten des legendären Partybezirks bezahlen zu können.

Hier passierte nicht nur einmal im Jahr etwas Interessantes und danach brachte die lokale Presse immer wieder Artikel darüber, weil sonst eben nichts passierte. Wer hier auf den Steinen lag, der hatte schon selbst bluten müssen, mehrfach.

Estella stellte sich so immer den Krieg vor. Die zerbombten Trümmer, die weinenden Kinder, die verlorenen Seelen, die nicht mehr wussten, wo sie morgen sein würden... Estella dachte oft darüber nach, dass es noch etwas außerhalb der Pluralen Welt gab, in der Singlets sich gegenseitig um das letzte noch nicht versunkene Land des Planeten bekämpften.

Bald würde Spectre eine geeignete Stelle finden und sie mitnehmen, in einen der Grenzbezirke. Was würde sie dort wohl sehen? War sie überhaupt bereit dazu, es zu sehen? Was, wenn es sie so sehr verletzen würde, wie sie sonst noch nie etwas verletzt hatte?

Für Estella lag über dem Leben immer ein gewisser Nebel. Sie versuchte nie es zu verstehen. Sie genoss es einfach. Wie die Autos um sie herumrasten, diese metallenen Kästen in windschnittigem Design, in deren Oberfläche sich die Wolkenkratzer spiegelten. Die Obdachlosen, die in ihrem Revier um Kleingeld rangen und dabei einen Ton durch die Menge schossen, der voller persönlichem Leid war, und den jeder, der an ihnen vorbeiging, empfangen musste, auch wenn sie es nicht wollten.

Das Zusammenspiel der Sinne war an diesem Ort sehr intensiv. Es war ein Bezirk, in dem es keinen Wald gab. Es gab riesige Parkanlagen, aber keine richtige Natur. Die Natur hatte hier nichts zu sagen. Nur Raubtiere wie Kasha liefen nachts durch die Straßen um sich an denen auszulassen, die nicht gelernt hatten Nein zu sagen. So härtete dieser Ort sich selbst ab. Damit es hier nie so sein konnte, wie es daheim war. Perspektivenlos, kalt, starr - dort, wo die Zeit angehalten wurde und die Menschen nicht mehr wussten, wozu sie eigentlich am Leben waren.

Hier blitzten die Reklamen für eine schnelle Nummer mit dem Fiktiven deiner Träume. Plurale, die ihren Körper verkauften und ihre einzelnen Inneren beworben mit »Sie ist wie Catty Mane«, »So, als ob man es mit Sybil treiben würde«, »Schon mal einen Fuchs gehabt?« Auf der anderen Seite waren da die ganz Großen, die es geschafft hatten, sich einen Namen zu machen und auf der Straße umringt wurden von Reportierenden und Fotokräften. Deren müde Augen im Blitzlichtfeuer aufflammten und Estella mehr an zuhause erinnerten, als an hier.

An der Spitze musste man wohl auch vergessen, wozu man eigentlich lebte. Und wozu lebte sie eigentlich? Wusste sie das überhaupt? Sie lebte um zu spüren, um zu lieben, aber auch um zu weinen und um sich genau solche Gedanken machen zu müssen.

Plurale Welt (Gesamtausgabe, wattpad-friendly)Where stories live. Discover now