4. Das wabernde Chaos

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Allerdings gab es nicht nur positive, neue Eindrücke, die durch das Außen zu ihnen hereinströmten. Einmal lief ein seltsamer, alter Film über den Bildschirm, als sie alleine waren. Dort ging es um eine riesige, fleischfressende Pflanze, die einen Vertrag schloss mit einem Blumenverkäufer. Dieser fütterte dann der magischen, fleischfressenden Pflanze Teile von Menschen und sogar ganze Menschen, um dem Ziel, seine Angebetete zu heiraten, näher zu kommen.

Für Spectre war das nur ein sehr gutes Beispiel dafür, wie stark das Innenleben der Menschen, ihre Fantasie, abstruseste Welten erschaffen konnte. Kasha'aar empfand das bloß als eine witzige Geschichte, aber bei Estella begannen Ranken zu wachsen und kleine Mäuler fingen heimlich und geschützt vom umliegenden Dickicht an sich auszubreiten, die bald auch nach Estella schnappten. Ihr war das gar nicht lieb und sie begann öfter zu schreien und in Angst zu verfallen, immer, wenn sie an die riesige, fleischfressende Pflanze dachte.

»Was ist, wenn dieser Film bei uns etwas Böses aus dem wabernden Chaos gezogen hat? Was ist, wenn es mich wirklich bedroht und fressen will?«

Sie holte sich Rat bei Spectre. Dieser dachte über ihre Lage nach.

»Naja, also...«, er holte mit einem seiner silbernen Auswüchse aus und konzentrierte sich auf einen Bereich ihres Waldes, der nun nur noch so wimmelte von gefräßigen Mäulern. Seine Energie zerschoss die Ranken und ließ sie in Luft aufgehen. Estella sah dies und machte sich Sorgen, dass die übel gelaunten Pflanzen einfach nachwachsen würden. In diesem Moment begannen die Ranken auch schon sich neu zu bilden und erneut ein dichtes Gestrüpp auszubauen.

»Hm«, analysierte Spectre, »ich denke, es ist nicht Besorgnis erregend. Ich denke deine eigenen Vorstellungen schaffen immer noch deine Welt, du hast sie nur irgendwie nicht ganz...unter Kontrolle.«

»Aber das ist doch furchtbar!« entgegnete ihm Estella.

»Nicht unbedingt. Wir werden das noch ein bisschen beobachten müssen, aber versuch doch einfach mal so wie immer mit etwas Neuem umzugehen. So wie du sonst auch mit Dingen umgegangen bist, die du hier drinnen nicht gemocht hast.«

Estella dachte darüber nach und begab sich an ihren Teich. Sie saß dort für eine ganze Weile. Eine so lange Zeit, dass die Ranken mit den Grauenmäulern sie nun auch dort ausgemacht hatten und ihr unaufhörlich näher kamen. Doch Estella hatte sich bereits geistig auf diesen Moment vorbereitet. Oder waren die Ranken doch nur zu ihr gekommen, gerade weil sie nun das Gefühl hatte, bereit für sie zu sein?

Estella wusste es nicht, aber vertraute sich selbst und ihrer eigenen Existenz hier in diesem Raum. Sie holte tief Luft und ließ die Ranken einfach das tun, was sie offensichtlich wollten. Die Ranken bissen sich in ihrem Fleisch fest. Ein besonders gigantischer Zahnauswuchs formierte sich aus der Erde und verschlang sie am Stück.

Estella fiel tief in einen zeit- und raumfreien Tunnel, der nur aus Reihen an Reihen von spitzer Zähne bestand. Sie fiel immer weiter und sie sah immer wieder grauenhafte Visionen von Mäulern, die auf sie zukamen, und Dornenranken, die ihren Avatar umschlossen und ihr Fleisch wund und blutig rissen. Doch Estella spürte keinen Schmerz. Sie wiederholte konstant immer nur wieder und wieder in ihrem Kopf:

»Auch so kann ich leben. Auch so kann ich leben. Auch so kann ich leben.«

Nach ungefähr fünfzehn Minuten in Spectres Zeitrechnung, und mehreren Tagen nach Estellas Empfinden, wurde diese Reise den Ranken, den Zähnen und den Mäulern offensichtlich...langweilig. Ja, es schien Estella so, als wäre ein Punkt dieser Phase überschritten worden. Die Folter hatte keine Wirkung mehr. Es war eine Routine aus dem Grauen heraus entstanden und die schrecklichen Visionen und Bilder langweilten ihren Geist nun. Und genauso fingen auch die Visionen selbst an sich in sich selbst zu langweilen.

Plurale Welt (Gesamtausgabe, wattpad-friendly)Where stories live. Discover now