Kapitel 120

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Am nächsten Morgen kam ich statt zur ersten erst zur dritten Stunde in die Schule. Ich hatte bei Derek übernachtet, da mir einfach nicht danach war, nach Hause zu gehen, und ordentlich verschlafen. Da ich bei ihm auch kein Make-up oder ähnliches hatte, sah ich aus wie krank, als ich in den selben Kleidungsstücken wie gestern zu den Bioräumen sprintete. Zwar hatte ich noch einige Minuten Zeit, bis die zweite Stunde überhaupt enden würde, doch mein inneres Adrenalin zwang mich dazu, nicht stehen zu bleiben, um Luft zu holen.

Hätte ich jedoch gewusst, dass Justin der einzige war, der bereits in Bio auf seinem Platz saß, hätte ich draußen gewartet. Diese Option blieb mir jedoch nicht mehr, als unsere Blicke sich trafen. In Justins Augen lag reiner Schock, als er mich musterte. Genauso wenig wie ich, schien er damit gerechnet zu haben, dass wir noch einmal alleine miteinander sein würden. Doch der Raum war offen und der Lehrer genauso wenig da, wie irgendein Mitschüler.

"Was machst du schon hier?", fragte Justin und brach somit die Stille. In seinen Worten klang kein Vorwurf oder Eifersucht; er war bloß neugierig. Somit hatte er zumindest nicht bemerkt, dass ich nichts anderes trug, als gestern. "Habe verschlafen", erklärte ich kleinlaut. Sofort machte sich ein Lächeln auf Justin Lippen breit, das so liebevoll war, wie ich es seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. "Dass ich den Tag mal erleben würde", murmelte er ohne mich aus den Augen zu lassen. Auch ich konnte mir ein Lächeln nicht unterdrücken, ließ aber den Kopf gesenkt, damit er es nicht sehen konnte.

"Setz dich ruhig, wenn du nicht willst, spreche ich dich die ganze Stunde nicht an. Nur...setz dich einfach nicht weg, ok?", murmelte Justin kleinlaut. In diesem Moment wirkte er auf mich wie ein kleiner Junge, der Angst hatte, verletzt zu werden. Ohne etwas zu sagen lief ich zu ihm hinüber in die erste Reihe und ließ mich auf dem freien Stuhl neben ihm nieder. Es fühlte sich so falsch an, mit ihm so fremd umzugehen. Eigentlich sollte ich seine Hand nehmen und sie drücken, doch so verletzt wie diese war, hätte ich mich womöglich nicht mal getraut, sie anzufassen.

"Was ist mit dir passiert, Jus?", fragte ich verzweifelt. Ich musste es einfach wissen; egal ob Justin der Ansicht war, dass es mich noch was anging oder nicht. Vorsichtig suchte ich seinen Blick, doch Justin umging es, mich anzusehen. "Ich...hab den Mann gefunden, der meinen Vater, meine Schwester und meine Stiefmutter umgebracht hat", flüsterte er schließlich. Seine Stimme zitterte vor Wut und auch in seinen Augen war jeder Frieden gewichen. Bloß noch Hass wurde von ihm ausgestrahlt. Hass, der so intensiv war, dass ich Angst bekam, ihn überhaupt noch anzusprechen. "Und ich hab genügend Beweise, um ihn belasten zu können!", fügte er hinzu. Eigentlich hatte ich dies nun für tolle Neuigkeiten gehalten, doch Justin lächelte nicht. Stattdessen biss er die Zähne so fest aufeinander, dass ich ein Knacken seines Kiefers vernahm.

"Ich verstehe nicht ganz?", stammelte ich unbeholfen. "Ich meine, ist es nicht das, was du immer wolltest?" Kopfschüttelnd krallte Justin sich in sein eigenes Bein. Er schien sich so sehr beherrschen zu müssen, dass ich zum ersten Mal Angst dabei hatte, mit ihm alleine zu sein. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus, löste seinen Griff mit meinen Fingern und verschränkte unsere Hände stattdessen miteinander. Es war erstaunlich zu beobachten, doch die Geste schien Justin tatsächlich zu beruhigen. Zwar war sein Griff um meine Hand stärker als sonst, doch ich hatte eher das Gefühl er habe Angst, ich könnte sie ihm wieder entnehmen.

"Er wusste, dass ich ich Beweise gegen ihn hatte. Er hat mich solange gefoltert, bis ich eingewilligt habe, sie zu zerstören. Jetzt hab ich nichts mehr, außer dem Wissen, wer er ist!", sprach Justin, nachdem er eine Weile auf unsere Hände gestarrt hatte. Mit einem Mal wirkte er so zerbrechlich auf mich, wie noch nie zuvor. Alles, wofür er jemals gearbeitet hatte, war ihn entrissen worden. Und zu allem übel hatte er mich auch noch zeitgleich verloren. "Aber, du weißt, wie die Beweise aussahen. Du kannst damit immer noch zur Polizei!", widersprach ich. In meinem Kopf ratterte es nach irgendwelchen Möglichkeiten, Justin zu helfen. Ich wollte, dass dieser Versager für das Bestraft wurde, was er Justins Familie angetan hat. Doch Justin schüttelte abermals bloß den Kopf. "Wenn ich das tue, bin ich tot, Ally! Es ist ein Wunder, dass er mich nicht schon umgelegt hat, so viel wie ich weiß!", erwiderte er. Mit diesen Worten nahm er mir die Wut und ersetzte sie mit Angst um ihn. Ich wollte nicht, dass irgendjemand ihn bedrohte oder ihn so zurichtete. Niemand sollte das recht haben, ihm so etwas anzutun.

Vorsichtig hob ich meine freie Hand an und führte sie zu seinem Gesicht. Ich erwartete beinah, dass er zurückweichen würde, doch Justin ließ zu, dass ich meinen Zeigefinger auf seine verfärbte Haut legte und sanft über den Bluterguss fuhr. "Eines Tages wird er seine Rache kriegen", murmelte ich zuversichtlich, doch Justin schien mich gar nicht mehr zu hören. Wie durch einen Schleier blickte er mich an, sah zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her, bis er an meinen Lippen hängen blieb. Mir war klar, was er wollte. Und ich wollte es genau so sehr, doch es war dennoch falsch.

"Das ist nicht so einfach", widersprach Justin schließlich leise. Immer noch wirkte er etwas abseits der Thematik, doch wenigstens konnte er mir noch antworten. Mit gerunzelter Stirn ließ ich meinen Finger über seinen Kiefer wandern, bis ich unterhalb seiner Lippen ankam. "Weil?", hörte ich mich fragen, doch es klang wie aus weiter Ferne. Ich konnte nicht mal mehr sagen, wonach ich da eigentlich gerade fragte. Justins Nähe ließ mich alles andere vergessen. Es wäre so einfach, ihn zu küssen. Niemand war hier, der uns erneut unterbrechen könnte und irgendwie fiel mir auch kein Grund mehr ein, es nichts zutun. Alles, was geschehen ist, wirkte aufeinmal so unglaublich weit weg. Es interessierte einfach nicht mehr. Langsam ließ Justin seinen Blick wieder zu mir hinauf wandern, sodass unsere verzweifelten Blicke sich trafen. Ich konnte die Liebe in seinen Augen sehen, die ich so sehr vermisst hatte. Nie wieder wollte ich sie missen müssen; ich wollte bloß noch ihn.

Und dann tat ich es, ohne einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden, ob dies nun richtig war. Vorsichtig beugte ich mich nach vorne, legte meine Lippen auf die seinen und küsste ihn zaghaft und voller Gefühl. Justin brauchte keine Millisekunde, um darauf anzuspringen. Seine freie Hand fand sich mit einem Mal in meinem Nacken wieder und drückte meinen Kopf voller Verzweiflung näher an sich. Ich konnte den Hunger in diesem Kuss spüren, doch es war nicht wie sonst auf sexueller Weise;da war bloß die Verzweiflung und die Sehnsucht, die wir beide empfanden. Noch nie zuvor hatten wir uns so geküsst, doch wir waren auch noch nie zuvor solange voneinander getrennt gewesen.

Doch egal wie schön dieser Kuss war und wie gerne ich mich in Justin verloren hätte, irgendwann nagte doch das schlechte Gewissen an mir. Vorsichtig darauf bedacht, Justin nicht zu grob von mir zu stoßen, löste ich mich wieder von ihm, doch Justin schien den Abstand noch nicht zu ertragen. Ohne seine Hand aus meinen Haaren zu nehmen lehnte er seine Stirn an die meine und hielt die Augen geschlossen. Er war ein Anblick für die Götter, so nah wie er mir in diesem Moment war. "Verlass mich nicht wieder", stammelte er so leise, dass ich es kaum verstand. Es waren die wohl ehrlichsten und gefühlvollsten Worte, die ich jemals von ihm gehört hatte. Sie sagten viel mehr von seiner Liebe zu mir aus, als jedes 'ich liebe dich' es gekonnt hätte. "Werde ich nicht!", versprach ich und meinte es auch so. Justin öffnete sofort seine Augen und sah mir voller Hoffnung in die Augen. "Aber ich muss das trotzdem erst mit Derek klären, das hat er so nicht verdient!" Ich konnte Justin ansehen, dass ihm dies widerstrebte, doch er nickte dennoch verständnisvoll. "Sag mir nur eins"; verlangte er vorsichtig. Mit neugierigen Augen sah ich zu ihm auf, während er ein kleines Bisschen zurückwich, sodass er sich eine meiner vordersten Strähnen zwischen die Finger drehen konnte. "Liebst du ihn?" Justin sah mich nicht an, während er dies fragte, doch ich sah die Angst vor der Antwort dennoch in seinen Augen. "Nein, aber ich liebe dich!" Und mit diesen Worten küsste ich ihn ein weiteres Mal. Wohlwissend, dass es niemals ein schöneres Gefühl auf der Welt geben würde.

Changes~Open Up Our Hearts (Justin Bieber ff) (Abgeschlossen)Where stories live. Discover now