Kapitel 11

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Kapitel 11:
Ich war müde, viel zu müde. Seit Tagen hatte ich nicht mehr geschlafen, so sehr hielten mich Leos vereinzelte Anfälle wach. Doch meine Mutter hatte begonnen stumm zu schalten, wann auch immer er sich meldete. Sie schloss ihn lediglich in seinem Zimmer ein und ignorierte die tobenden Geräusche, die uns allen in den Ohren widerhallten. Ich jedoch ertrug dies nicht. Konnte es nicht einfach geschehen lassen, dass er sich selbst in dem Adrenalinwarn verletzte, in dem er sich viel zu häufig befand. Wer konnte ihm denn auch verübeln, dass er wütend wurde? Seit seinem ersten Tag auf dieser Welt wurde er eingesperrt, hatte noch nie Tageslicht außerhalb unseres Gartens zu Gesicht bekommen und sollte damit einverstanden sein? Während er zu sehen bekam, wie ich und Adrian groß wurden?

Es war einfach nicht fair.

Also stahl ich mich in sein Zimmer. Jedes Mal, wenn ich ihn schreien hörte, wartete ich einige Minuten, bis es realistisch war, und kroch dann durch sein Zimmerfenster zu ihm. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er verstummte, sobald ich meine Arme um seinen zitternden Körper schlang. Denn das war alles, was er sich erhoffte. Ein bisschen Zuneigung und Liebe.

"Ich bin da", rief ich ins Innere des Hauses hinein, kaum dass ich meine Schuhe von den Füßen geschliffen hatte. Sofort tauchte der Kopf einer alten Dame durch den Spalt in der Wand, der zum Wohnzimmer führte, und schenkte mir ein ehrliches Lächeln. Madame Dublier, eine Frau, die mehr Mum für mich war, als meine eigentliche Mutter. "Das freut mich Süße!", erwiderte sie ehrlich. Mit einem breiten Grinsen kam ich zu ihr hinüber gelaufen und ließ meinen Blick langsam auf Leo gleiten, der in seinem Rollstuhl saß und so nah an den Tisch angeschoben worden war, dass er beim Essen keine Sauerei machen konnte.

"Ich übernehme dann ab hier, danke!" Lächelnd entnahm ich der älteren Dame die Gabel und sah zu, wie sie mit einem Lächeln Richtung Vorraum verschwand. Sie war die einzige, die außerhalb der Familie von Leo wusste. Tag täglich kam sie vorbei und passte auf ihn auf, während wir alle auf der Arbeit beziehungsweise in der Schule waren. So gesehen konnte ich mich nur glücklich schätzen, dass sie eine so liebevoll Person war. Andernfalls müsste Leo die Zeit in diesem Gefängnis noch mehr gequält verbringen.

"Alles gut Kleiner?", wandte ich mich an Leo, der mich schon mit geweiteten Augen anblickte. Erst jetzt bemerkte ich die Spaghetti, die er in den Händen hielt und ganz offensichtlich im Begriff gewesen war, sie im hohen Bogen auf mich zu schleudern. "Lass mich dir die abnehmen!", flüsterte ich sanft. Meine Mum wäre jetzt schon wieder ausgerastet und hätte ihn angeschrieen, doch ich konnte aus Erfahrung sagen, dass die sanfte Methode meist besser funktionierte. "Wieso?" Ein misstrauischer Klang lag in seiner sanften Stimme. Fast so, als würde er befürchten, ich würde seine eigenen Waffen gegen ihn richten. Mit einem kleinen Augenverdreher und stetigem Lächeln nahm ich eine frische Servierte vom Tisch und wischte ihm die kleinen Finger ab.

"Ich würde dir niemals was tun, das weißt du doch!" Sanft hielt ich seine Hand für einen Moment umschlungen und schmiss dann die dreckigen Servierten in den kleinen Mülleimer, der extra für solche Fälle unterhalb des Tisches platziert worden war. Nicht mal mehr an einem normalen Tisch ließ unsere Mum ihn speisen. Er hatte bloß eine etwas größere Platte, die an den Lehnen seines Rollstuhls befestigt wurde. "Du nicht, aber sie!" Erschrocken drehte ich mich in die Richtung um, in die er gedeutet hatte, doch zu meinem Glück meinte er damit nur die Wand, hinter der unsere Mum sich befand. Hätte sie ihn etwas derartiges sagen hören, wäre wohl Ende mit dem Leben hier Zuhause gewesen. Dabei hatte sie es nicht anders verdient. Es war feige, dass sie sich in ihrem Zimmer die Zeit schön machte, während mein Bruder, ihr Sohn, eine Haushälterin den ganzen Tag über neben sich hatte. Sie war nicht berufstätig und könnte sich so leicht um ihn kümmern, doch sie wollte nicht. Wenn es nicht gegen das Gesetz verstoßen würde, hätte sie ihn mit Sicherheit schon umgebracht.

"Sag so was nicht!", ermahnte ich ihn zum ersten Mal etwas streng. Doch es war nur zu seinem eigenem Wohl. Er brauchte mich genau so sehr wie ich ihn und auch wenn für mich klar war, dass ich ihn nicht ewig bei mir halten konnte und eine andere Lösung finden musste, was mit ihm passieren würde, wenn ich von Zuhause auszog, sollte er mich nicht verlieren, indem unsere Mutter uns trennte. "Aber es stimmt!" Mit finsterer Miene beharrte Leo auf seine Worte. Vor Wut quoll ihm mal wieder der Mund etwas mit Speichel über und lief ihm aufs Kinn hinab, doch er schien dies gar nicht zu bemerken. Oder er wollte es gar nicht mehr bemerken. Es musste schwer sein im Kopf klar zu sein, wenn du deinen Körper nicht unter Kontrolle halten kannst. Nur manchmal, wenn er seine Ausbrüche hatte, schien auch sein Kopf nicht mehr klar denken zu können.

"Sie ist gemein und grausam und ich will nicht mehr in ihrer Nähe sein!" Ich konnte genau sehen, wie wässrig seine Augen wurden; konnte den Schmerz nachempfinden, der ihn durchdrang. Es war nicht nur Mum, es war auch unser Vater. Sie beide liebten ihn nicht und er musste sich inzwischen elendig fühlen, dies so sehr zu spüren zu bekommen. "Hey", murmelte ich sanft. Mit einer Hand umgriff ich seine Wange und strich ihm behutsam über die so weiche Haut. "Dafür bin ich doch da. Leo, ich liebe dich über alles, du bist mein kleiner Bruder! Und ich verspreche dir, dass ich dich hier rausholen werde. Es ist nur noch ein Jahr, dann bin ich volljährig und dann ziehen wir beide hier aus. Wir suchen uns eine Wohnung und Madame Dublier wird tagsüber vorbeisehen, wenn ich nicht da bin. Sie magst du doch auch, oder? Wir werden besser Leben, du musst dich nur noch gedulden." Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, da blitzte die Hoffnung in seinen Augen auf. Hoffnung und Dankbarkeit, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. "Versprichst du es mir?", fragte er mit leicht bebender Stimme. Zuversichtlich nickte ich und ließ zu, dass er mich mit seinen kleinen Ärmchen näher an sich heranzog, sodass er mir eine seiner verkrampften Umarmungen geben konnte.

Drei Wochen später, als ich von einem Ausflug mit ein paar Freunden meiner alten Schule nach Hause kam, lag er Tod in seinem Zimmer auf dem Fußboden. Niemals würde ich vergessen, wie starr seine Augen ausgesehen hatten und wie die Spuren seiner letzten Tränen sich auf seinen Wangen glitzernd zu bekennen gaben.

Man hatte ihm noch ansehen können, wie verzweifelt und traurig er in seinen letzten Minuten gewesen war. Und ich war nicht da, um ihm zu helfen. Wäre ich Zuhause gewesen, wäre er noch am Leben. Ich wäre da gewesen, als er seinen Wutanfall bekommen hatte und hätte nach ihm gesehen; anders als meine Mutter, die nicht mal mehr mitbekommen hatte, wieso er aufgehört hatte, zu schreien, bis ich es ihr sagte, nachdem ihr Besuch weg war.

Wäre ich da gewesen, um seinen Wutanfall zu unterbrechen, hätte er nicht versucht aufzustehen, obwohl er nicht laufen konnte, da seine Beine sich nach Innen drehten. Er wäre nicht gestürzt und hätte sich auch nicht den Kopf an der Ecke seines Nachtisches gestoßen. Und er wäre nicht unter Schmerzen verblutet, während meine Mum unten saß und das Poltern ignorierte, da sie ihrer Freundin nicht erklären konnte, was dies war.

Dass diese Dame aus der Sauna nichts von meinem Bruder erfuhr, war ihr wichtiger gewesen, als herauszufinden, was ihm passiert war. Doch hätte sie ihren Stolz runtergeschluckt, hätte sie Leo vielleicht noch retten können.


Es waren so viele Wenns, doch keines davon war eingetreten. Leo war Tod und es war die Schuld meiner Mutter und ihres aufgesetzten Images.

Changes~Open Up Our Hearts (Justin Bieber ff) (Abgeschlossen)Where stories live. Discover now