Kapitel 9

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Kapitel 9:
Ich gehörte wohl zu den wenigen Menschen, die sich nicht freuen, wenn sie nach einem anstrengendem Schultag nach Hause kommen. Viel eher war ich einer dieser Menschen, die die Fahrt im Auto mit jeder Faser ihres Körpers zu genießen versuchen und lieber noch eine Stunde Mathematik hätten, als zum Abendessen nach Hause zu kommen. Doch egal wie gerne ich meinem Zuhause fern bleiben würde, am Ende des Tages würde ich doch wieder in den so vertrauten und doch fremden Wänden unseres Einfamilienhauses landen.

Ohne jegliche Begeisterung stieg ich noch in unserer Einfahrt aus dem Auto aus und sah meiner Mutter gar nicht mehr hinterher, wie sie in die Garage einfuhr, ehe ich meinen Schlüssel hervorkramte und mich ins Innere des Hauses begab. Wie immer fiel mein Blick sofort zu der großen Treppe gegenüber der Eingangstür nur um sich dann schnell wieder abzuwenden. Es war nicht mehr nötig, mich nach ihm umzusehen. Er würde nie wieder bei dem Klang der Haustür mit seinem Rollstuhl zur Treppe vorfahren, voller Begeisterung in den Augen, dass ich ihn nun endlich runter ins Erdgeschoss schob. Nie wieder, würde ich sein glückliches Lächeln oder einen dankbaren Kuss auf die Wange bekommen.

Schwer schluckend stellte ich meine Tasche sorgfältig in die Ecke und hoffte, dass meine Mutter sich nicht darüber aufregen würde, dass ich sie nicht in mein Zimmer brachte. Ich hatte in diesem Moment einfach noch keine Kraft, mich nach oben zubegeben. Es tat jedes Mal weh, an seinem Zimmer vorbeizugehen und die Macken in der Tür zu sehen, die einer seiner Wutanfälle entsprungen waren. Stattdessen ging ich den langen Flur mit den hohen Wänden entlang und versuchte die vielen Fotos zu ignorieren, die meine Mutter aufgehängt hatte, damit unser Besuch sehen konnte, was für eine glückliche Familie wir doch waren.

Dass jedoch in dem Moment, wo sie diese Fotos ansahen, ein weiterer Junge nur eine Etage oben in seinem Zimmer eingesperrt worden war, der auch einen Platz in diesen Bilderrahmen verdient hätte, würden sie alle niemals erfahren.

"Hey Süßer", begrüßte ich meinen zweiten Bruder, kaum dass ich die Küche betrat. Adrian saß mit gelangweilter Miene vor seinen Hausaufgaben und schenkte mir nur ein trauriges Lächeln, ehe er sich erneut den Papieren zuwandte. Dass er hier unten saß, statt auf seinem Zimmer, war ebenfalls aufgrund des Kontrollwahns meiner Mum. Noch nie hatte er irgendeine Schularbeit alleine erledigen dürfen und auch kontrollgelesen wurde alles, was er auf Papier brachte, ehe ein Lehrer es zu Gesicht bekam. Dass man einem Kind so auch die Lust an Schule rauben konnte, schien meiner Mutter wohl nicht klar zu sein.

"Was machst du da?", fragte ich neugierig und legte meinem Bruder von hinten die arme um den Hals. Das hatte ich schon immer bei ihm getan, auch wenn es komisch aussah, da er so viel kleiner war als ich. "Mathe, aber ich verstehe diesen Scheiß nicht!" Stöhnend schmiss er seinen Bleistift auf sein Heft und ließ sich mit geschlossenen Augen gegen mich fallen. Erst jetzt fiel mir auf, wie Blutunterlaufen und rotangelaufen die Haut überhalb seiner Wangen war. In dieser Familie vergaß man viel zu schnell, dass auch er um seinen Zwilling trauerte. "Komm ich helfe dir", schlug ich aufmunternd vor. Ich kannte das Gefühl nur zu gut, wenn man sich auf die Schule konzentriert wollte und doch immer wieder auf die falschen Gedanken kam. Erinnerungen oder einfach nur der Klang einer vertrauten Stimme.

"Wag es nicht Ally!", durchschnitt die Stimme meiner Mutter die Luft. Wie festgefroren blieb ich in der Bewegung stehen und krallte meine Finger ins Nichts, die bereit gewesen waren, Adrian den Stift abzunehmen. "Er ist nun in der dritten Klasse, da sollte er in der Lage sein, sich selbst Wege zur Lösung zu suchen! Außerdem möchte ich solche Worte nicht in meinem Haus hören!" Den letzten Teil richtete sie ganz unbeschämt in Adrians Richtung und warf ihm einen so finsteren Blick zu, dass er leicht zusammenzuckte. "Ally, bitte koch uns das Abendessen, und Adrian ich will dass du in einer Stunde fertig bist, hast du verstanden?"

Mit trüben Blick sah der kleine Schwarzhaarige vor mir seiner Mutter hinterher, während sie hochgehobenen Hauptes den Raum verließ. Auch wenn wir schon des öfteren über dieses Thema gesprochen hatten, wusste ich bis heute nicht, wie er eigentlich genau zu ihr stand. Er tat immer so, als wäre er stark genug, dass sie ihn nicht interessierte, doch seit Leos Tod wusste ich es besser; man sah in seinen Augen, wie verletzt er von ihrem Verhalten war.

"Wir sollten wohl besser auf sie hören...", murmelte Adrian beklommen. Unwissend, was ich sonst tun sollte, nickte ich einfach nur schwach und löste meine Arme von seinen Schulter. Soweit ich wusste hatte meine Mutter für heute Lasagne nach Großmutters Rezept geplant. Dies hieß einerseits, dass ich meinen Bruder einwenig glücklich machen konnte, da es sein Lieblingsgericht war, doch andererseits auch, dass ich Stunden brauchen würde, bis ich fertig war. Nichtsdestotrotz war das Lächeln meines kleinen Bruders mir mehr wert als alles andere auf der Welt. Also dachte ich nicht länger über den großen Aufwand nach sondern machte mich wortlos an die Arbeit, wobei mein Blick Immer wieder zu dem kleinen Jungen hinüber schweifte, der vollkommen verzweifelt wirkte und sich sichtlich nicht selbst zu helfen wusste.

Es zerbrach mir das Herz, ihn einfach so sich selbst zu überlassen, doch ich wusste, dass ich gar keine andere Wahl hatte. Wenn meine Mutter mich erwischen würde, wie ich ihm half, würde das nicht nur für mich Konsequenzen haben. Wenn ich Stress bekam, war das eine Sache, doch ich würde meinem Bruder dies niemals antun. Damit würde ich ihm schlussendlich weniger helfen als weiter verletzen.

"Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?", fragte Adrian aufeinmal. Er überraschte mich damit so plötzlich, dass ich den Löffel in die Soße fallen ließ, die ich gerade für die Schichten der Lasagne zubereitete. Hastig fingerte ich ihn wieder aus der brodelnden Flüssigkeit und wischte mit einem Tuch über das Metall. "W-Wie kommst du da jetzt drauf?", murmelte ich vorsichtig. Eigentlich war die Frage unsinnig, da ich genau wusste, was in diesem Moment in seinem kleinem Kopf los war, doch ich wusste einfach nicht richtig darauf zu reagieren. "I-ich will mir einfach nicht vorstellen, dass er im nirgendwo ist..dass er gar nicht mehr existiert." Hastig blinzelte er die erneut aufkommenden Tränen in seinen Augen weg, doch es war bereits zu spät; ich hatte sie gesehen. Erst jetzt fiel mir so richtig auf, wie erwachsen Adrian seit seinem Tod geworden war. Es hatte ihn verändert, genauso wie mich, doch ich war älter und reifer und wusste besser mit der Situation umzugehen.

"Hey, ich bin mir sicher es geht ihm gut, ok?" Vorsichtig ließ ich mich vor ihm auf die Knie fallen und ergriff seine zitternde Hand, die ich mit den meinen umschlungen hielt. "Wo auch immer er gerade ist, ich bin mir sicher, dass er auf uns hinabblickt und lächelt, weil er uns so gerne hat. Er wird immer bei dir sein, ok? Er ist bei dir, wenn du in die weiterführende Schule kommst und wirft Mum böse Blicke zu, wenn sie es dir wieder mal schwerer macht als nötig wäre. Er wird dabei sein, wenn du dich das erste Mal verliebst und sich für dich freuen und dir stolz auf die Schulter klopfen, wenn du deine Traumfrau dazu kriegst, dich zu heiraten. Er wird immer bei dir sein; da drin..." Mit vor Tränen erstickter Stimme löste ich meine eine Hand von der Seinen und legte sie ihm stattdessen flachgepresst auf die Brust, direkt über der Stelle, an der sein Herz lag. Das kleine Klopfen vibrierte unter meinen Fingerkuppen und erinnerte mich daran, dass er immer noch bei mir war. Dass ich wenigstens ihn noch hatte auf den ich Acht geben konnte.

Nickend senkte Adrian sein Kopf so tief ab, dass sein Kinn gegen seine Brust stieß, schaffte es jedoch dennoch, schwach zu nicken. "Ich wünschte nur, wir hätten ihn ein Mal mit nach Draußen genommen. Niemand hätte wissen müssen, dass er unser Bruder ist und somit hätte Mum auch nie erfahren, dass er draußen war, doch er hätte wenigstens mal eine Wiese oder Vögel gesehen. All dies ist für uns so selbstverständlich, doch Leo kannte diese Dinge nicht mal mehr!", murmelte er schwach in seinen Pullover hinein. Und mit diesen Worten sprach er eine Weisheit aus, die viele Menschen nicht mal mehr am Ende ihres Lebens erkannt hatten.

Changes~Open Up Our Hearts (Justin Bieber ff) (Abgeschlossen)Där berättelser lever. Upptäck nu