59. Kapitel, Part 2

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Ich bin als ganz normales Kind in einem Vorort Berlins aufgewachsen. Meine Eltern teilten mit mir und meinem großen Bruder eine kleine Wohnung im fünften Stock. Das Treppenhaus hatte keinen Fahrstuhl und es kam nicht selten vor, dass der Strom ausfiel oder es kein warmes Wasser mehr vorhanden war, aber es hat mir gereicht.

Als ich noch kleiner war hatten wir noch häufig Besuch von Verwandten und Freunden aus dem Ausland und ich habe mit meinem Bruder in einem Zimmer geschlafen, damit wir ein Gästezimmer zur Verfügung hatten. Häufig kam es zum Beispiel zu Weihnachten vor, dass wir so viele Gäste hatten, dass ich und mein Bruder im Wohnzimmer schlafen durften, was ich immer besonders toll fand, weil ich bis spät abends bei den Erwachsenen sitzen durfte und ihren Gesprächen lauschen konnte.

Irgendwann wurde dieser Besuch weniger und weniger, mein Großvater, welcher davor häufig bei uns war, wurde krank und konnte nicht mehr kommen, bis er irgendwann starb und ich nur noch ein paar glückliche Erinnerungen an ihn hatte, wie er als ich ein kleines Kind war mit mir gespielt hatte, als alle anderen keine Zeit dafür hatten.

Ich bin heute davon überzeugt, dass damals alles anfing, auch wenn das keine Entschuldigung dafür ist, dass alles so gekommen ist, wie es kam. Mit dem immer weniger werdenden Besuch brauchten wir auch das Gästezimmer kaum noch und ich bekam mein eigenes Zimmer. Mein Bruder war schon immer ein Vorbild für mich. Früher bewunderte ich ihn, einfach weil er größer war als ich und später übernahm ich seine Angewohnheiten, das fing an bei zu spät zur Schule kommen und hörte dabei auf, dass ich das erste Mal mit dreizehn an einer Zigarette gezogen hatte. Meine erste Beziehung hatte ich mit 14 mit einem seiner besten Freunde. Sie hielt nicht besonders lange, denn auch wenn er mich die meiste Zeit einfach nur ignorierte, so sehr ich mich auch bemühte seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, kam in Momenten wie diesen der große, beschützende Bruder in ihm hervor und er sorgte dafür, dass sein Freund nicht mehr sein Freund war und sich nie wieder bei ihm oder mir blicken ließ. Als er weg war, merkte ich, dass ich mich wohl wirklich in ihn verliebt hatte und fing an ihn heimlich und ohne dass mein Bruder davon wusste zu besuchen.

In eben diesem Jahr fing alles an. Nach und nach begann ich zu verstehen, dass mein Bruder kein besonders gutes Vorbild war und ich machte ihm nicht mehr alles nach, was er vormachte. Vielleicht kann man sogar behaupten, dass ich begann erwachsen zu werden. Im Gegensatz zu ihm. Während ich anfing, mehr für die Schule zu machen um nicht sitzen zu bleiben und kaum noch Alkohol trank oder auf Partys ging, tat mein Bruder das Gegenteil. Er war eigentlich in seinem letzten Jahr an unserer Schule und meine Eltern wollten, dass er danach studiert, aber es war klar, dass er es nicht schaffen würde, also versprach er ihnen, sobald er wiederholen würde sich anzustrengen. Sie glaubten ihm, da sie keine andere Wahl hatten und so lange arbeiten mussten, dass sie eh keinen wirklichen Einfluss auf ihn hatten.

Kurz nach meinem 15. Geburtstag kam ich eines Tages von der Schule nach Hause. Mein Bruder hatte sich mal wieder die Nacht um die Ohren geschlagen und war nicht einmal zum Frühstück zu Hause gewesen, es sei denn, dass er in der Schule gewesen wäre.

Ich öffnete die Tür und bemerkte dabei, dass sie nicht abgeschlossen war, was heißen musste, dass mein Bruder zu Hause sein musste. Ich trat in die Wohnung und erstarrte. Sämtliche Möbel waren umgeworfen worden, Vasen und Gläser zerbrochen und mitten in den Trümmern saß er.

Ich versuchte ihn anzusprechen, aber er reagierte nicht, sondern starrte nur an die Wand vor sich und dann passierte etwas, dass ich niemals erwartete hätte. Er fing an zu weinen, seit Jahren sah ich meinen Bruder das erste Mal wieder weinen.


I'm the Couchman | Kostory FFWhere stories live. Discover now