Kapitel 196 - Jonathan

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Obwohl Jonathan morgen früh aufstehen wollte, um noch möglichst viel am Haus zu schaffen, konnte er nicht einschlafen. Er lag schon eine gefühlte Ewigkeit im Bett und wälzte sich hin und her. 

Als er endlich eine halbwegs bequeme Position gefunden hatte, bewegte Sheila sich und legte ihre Hand auf seine Brust. Sie brummte, dann schlug sie so plötzlich die Augen auf, wie sie es immer tat, wenn sie aufwachte. Jonathan lächelte sie an und legte seine Hand auf ihre. 

Erinnerungsfetzen blitzten vor seinem inneren Auge auf, wie sie sich gestern vollkommen aufgelöst und heulend an ihn geklammert hatte, weil sie glaubte, er wollte sie verlassen. Zwar konnten sie alles schnell klären, doch sie auch nur für eine Minute so zu sehen, brach ihm das Herz. 

„Kannst du nicht schlafen?", fragte sie ihn und er seufzte. 

„Irgendwie nicht", antwortete er ihr und streckte seine freie Hand nach ihr aus, um ihr über die Wange zu streichen. 

„Aber du musst weiterschlafen", flüsterte er und fuhr ihr sanft mit der Hand über die Augen, damit sie sie wieder schloss. Er wollte sie nicht mit seiner Unruhe vom Schlafen abhalten, also beschloss er, sich ins Wohnzimmer zu verziehen, wenn sie wieder eingeschlafen war. Doch anstatt wieder versuchen einzuschlafen, setzte sie sich auf, schlug die Beine unter und musterte ihn. Obwohl nur ein kleiner Strahl Mondlicht ins Zimmer fiel, sah er den Glanz in ihren Augen. 

„Über was musst du nachdenken?", fragte sie nach einer Weile, doch er winkte ab. Eigentlich hatte er nicht wirklich über etwas Bestimmtes nachgedacht, aber nun, wo sie ihn darauf angesprochen hatte, formte sich ein Gedanke in ihm, der ausgesprochen werden wollte. 

Er suchte ihren Blick und fühlte sich ein wenig verunsichert, dass sie erkannt hatte, dass ihn unterbewusst etwas beschäftigte, doch wahrscheinlich hatte sie damit deutlich mehr Erfahrung als er selbst. 

„Immer raus damit, danach geht es dir bestimmt besser", ermunterte sie ihn weiter. Jonathan atmete noch einmal tief durch, dann rutschte er näher an sie heran, legte seinen Kopf in ihren Schoß und betrachtete sie von unten. Ihr langes Haar fiel in sein Gesicht und er fing an, daran herumzuspielen. 

„Wenn ich nun noch einmal darüber nachdenke, bin ich ein wenig...", fing er an, doch ihm fiel nicht das passende Wort ein, um seine Gefühle zu beschreiben, als startete er einen neuen Versuch. 

„Du bist vorhin so fest davon ausgegangen, dass ich mit dir Schluss machen würde. Es tut auf der einen Seite weh, weil du an meinen Gefühlen für dich zweifelst und ich dich einfach so verlassen könnte und auf der anderen Seite frage ich mich, was du glaubst, dass Oskar mir erzählt hat. Immerhin musst du selbst es für so schlimm halten, dass du an meiner Stelle Schluss gemacht hättest", fing er an und sah, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. 

„Ich frage mich, ob du Angst hast, dass ich irgendein schlimmes Geheimnis über dich herausfinde oder ob du es nicht... Ich meine, warum denkst du immer, dass du so schlimm bist? Du bist perfekt für mich", beendete er und schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. Denn auch wenn er nachvollziehen konnte, dass sie Angst hatte, er könnte sie verlassen und dass sie selbst nicht wirklich eine hohe Meinung von sich hatte, verwirrte ihn das alles. 

Zum einen regte sich ein kleiner Vorwurf in ihm, dass er ihr nicht genug gezeigt hatte, wie sehr er sie liebte und dass er nicht mehr ohne sie sein wollte. Zum anderen aber musste da doch irgendetwas sein, warum sie so schlecht von sich selbst dachte. Dass sie alles falsch machte. Denn das war absolut nicht so. 

Sheila schwieg noch immer und ihre Augen wanderten unruhig hin und her. 

„Ich kann einfach nicht begreifen, dass du mich magst. Du bist so normal und lieb und...", fing sie an, dann atmete sie tief durch. 

„Ich habe bisher immer gedacht, dass ich niemals mit jemandem zusammen sein könnte, der nicht auch vollkommen geistesgestört ist. Du sagst, dass meine Narben dich nicht stören. Oder meine Stimmungsschwankungen. Aber nachvollziehen kannst du es nicht. Du weißt nicht, wie man sich fühlt, wenn man einfach nur...", fing sie erneut an, doch wieder brach sie ab. 

Ihm war klar, was sie versuchte ihm zu sagen. Er konnte sich nicht in sie hineinversetzen, wenn sie freiwillig bis auf die Knochen abmagerte oder sich verletzte. Doch er verurteilte sie nicht deswegen und er wünschte, er könnte sie in der Hinsicht ein wenig besser verstehen. 

„Vielleicht kannst du mir erklären, wie es sich anfühlt. Dann könnte ich dir helfen, wenn du noch einmal in diese Situation geraten solltest", ermutigte er sie, weiterzusprechen, doch sie lächelte nur und schwieg wieder eine Weile. 

„Ich meine das ernst. Ich will dich nicht ausfragen oder irgendwie triggern, sondern dir helfen, falls du meine Hilfe brauchst. Denn wenn ich ehrlich bin, wäre ich jetzt überfordert, wenn du... du weißt schon", sagte er und machte eine Bewegung, als würde er sich selbst mit einem Messer in den Arm schneiden. Sheila gluckste, doch sie legte ihre Hand auf seinen Kopf, wie um ihn zu besänftigen. 

„Es ist nett, dass du mir helfen willst. Aber wenn ich in dem Wahn drin bin, dann muss ich es machen und niemand kann mich abhalten. Vielleicht wird es dann nicht so schlimm, aber mich ganz davon abzuhalten hat noch niemand geschafft", erklärte sie ihm und das trug nicht gerade dazu bei, dass er sich besser fühlte. Bei dem Gedanken an Blut, das ihr über den Arm floss, machte sich sein Magen mal wieder bemerkbar. 

„Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann. Wenn du in diesem... Wahn bist, was würdest du dir wünschen, was ich tue?", hakte er nach und wieder schien sie darüber nachdenken zu müssen. 

„Wenn ich gerade dran bin, dann stör mich nicht. Ich... würde es nicht vor deinen Augen machen, sondern mich im Bad einschließen oder so, aber dann lass mich einfach in Ruhe. Wenn ich fertig bin, komme ich schon raus. Vielleicht kannst du es dir ansehen und mich dann zum Arzt fahren. Aber auf keinen Fall solltest du so was sagen wie „Musste das sein? Du hättest doch mit mir reden können" und so etwas. Denn das ist Quatsch. Wenn mein Hirn sich entschließt, dass ich es machen muss, hält mich eigentlich nichts ab und wenn doch wird es kurz danach nur schlimmer", erklärte sie und so langsam konnte er sich vorstellen, wie sie sich verhalten würde. 

„Was soll ich denn sagen?", fragte er nach, doch sie grinste. 

„Am besten nichts. Bleib einfach bei mir und halte meine Hand, außer wenn ich dir sage, dass du mich allein lassen sollst", erklärte sie und er versuchte, sich alles zu merken. 

„Okay, ich tue einfach, was du mir sagst. Aber hoffen wir einfach, dass diese Situation niemals vorkommt", schloss er und versuchte, sie anzulächeln, doch so recht gelang es ihm nicht. Sheila grinste. 

„Du hast noch nie über so etwas nachgedacht, stimmt's?", fragte sie und er nickte zustimmend. 

„Aber soll ich dir mal was Verrücktes sagen?", fragte sie dann mit beinahe belustigter Stimme. 

„Klar", erwiderte er und sah sie neugierig an. 

„Ich glaube nicht, dass ich nach dem Gerichtstermin den Drang verspüre. Ich merke, wie ich jeden Tag stärker werde. Als du mir das gesagt hast, wollte ich es nicht glauben, aber du hattest recht. Mit dir habe ich das Gefühl, dass ich alles schaffe", sagte sie ernst und kurz pochte sein Herz schneller. 

„Und was war jetzt das Verrückte daran?", wollte er wissen, doch eigentlich ärgerte er sie nur. Für sie war es neu, sich selbstsicher zu fühlen und positiv in die Zukunft zu sehen. Sie lachte leise, denn sie wusste, dass er es nicht ganz ernst meinte. 

„Aber um auf deine eigentliche Frage zurückzukommen: Ich habe nicht gedacht dass du Schluss machst, weil du mich nicht liebst, sondern weil du bemerkt hast, was für ein schrecklicher Mensch ich bin. Ich weiß, dass du mich liebst", sagte sie noch, dann hob sie seinen Kopf von ihrem Bein und legte sich wieder hin. Es hörte sich so schön an, das aus ihrem Mund zu hören. 

„Und du liebst mich auch?", fragte er und setzte eine möglichst unsichere Miene auf, doch sie flitschte ihm leicht mit dem Finger gegen die Stirn. 

„Und wie", sagte sie dennoch, dann legte auch er sich wieder richtig herum auf seine Seite des Bettes und schneller als erwartet schlief er ziemlich zufrieden ein. 

Slice of Life - A New Beginning IWhere stories live. Discover now